Süddeutsche Zeitung

Wahlabend im TV:CDU hat Saughemmung - AfD bekämpft das N-Wort

Welche Moderatorin hat die namhaftere Gästeliste? Wer erklärt das Wahlergebnis? Ein TV-Abend mit "Anne Will", "Maybrit Illner" - und Gerlinde Kretschmann.

TV-Kritik von Johanna Bruckner

"Anne Will" im Ersten

Parteispitze oder zweite Garde - wie illuster ist die Gästeliste?

In der Partyrubrik eines Societymagazins würde es nicht für die Doppelseite mit großen Bildern reichen, sondern lediglich für die Miniaturfotoecke: "Wo wurde sonst noch gefeiert?" Wobei die Runde bei Anne Will - bestehend aus: einer Ministerin, drei Menschen, die stellvertretend ein Amt innehaben, und einem Politikwissenschaftler - ohnehin nicht zum Feiern aufgelegt scheint. Das Ganze erinnert eher an ein verkrampftes Familienweihnachtsdinner. Die Wahl-Gans wird so lange tranchiert, bis nicht mal mehr eines dieser Billig-Rezepthefte an der Supermarktkasse Freude an einem Foto hätte.

Worum soll es eigentlich gehen?

Um die Frage: "Die Richtungswahl - Abrechnung mit Merkels Flüchtlingspolitik?"

Worum geht es tatsächlich?

Man traut seinen Ohren kaum, in dieser Talkshow antworten die geladenen Gäste tatsächlich mal auf gestellte Fragen! Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ordnet die Wahlergebnisse des Sonntags so ein: "Im Endeffekt ist der europäische Kurs der Kanzlerin bestätigt worden. Aber wir haben in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg daraus keinen Honig saugen können." Wenn Sie an dieser Stelle Gans und Honigglasur zusammenbringen und für einen kurzen Moment traumsüßen Speichel in Ihrem Mund umwälzen möchten: gerne - gleich wird es bitter. Denn Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter weiß, woran die Saughemmung liegt: "Weil Angela Merkel eine (...) Politik verfolgt, die auch von der eigenen Bevölkerung Zuwendungen und Leistungen erwartet. Und die vor allem die humanitäre Position ins Zentrum stellt. Und wir in einer Gesellschaft leben, die doch sehr stark von dem Satz geleitet wird: 'Unterm Strich zähl' ich.'"

Wie das wohl bei den vielen ehrenamtlichen Helfern ankommt, die sich in diesem Winter bei der Erstversorgung von Flüchtlingen aufgerieben haben?

Aber apropos Egozentrismus: Der stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, Ralf Stegner, ist angefressen vom guten Abschneiden der AfD: "Für mich ist es ein bitterer Umstand, dass es Länder gibt, in denen wir hinter denen liegen." Leider ziehen Stegner und die übrigen Anwesenden einmal mehr die falsche Konsequenz aus dem erschreckenden Zulauf für die Rechtspopulisten: Anstatt leidenschaftlich über die eigenen Ideen für die Lösung der Flüchtlingskrise zu sprechen, wird nur leidenschaftlich über das Nichtprogramm der AfD diskutiert. Hängen bleibt? Genau, nichts.

Wie viel wird gestänkert?

Es fällt das böse N-Wort. Grünen-Politiker Robert Habeck findet, die AfD sei die "NPD für Besserverdienende". Auf Nachfrage von Moderatorin Will konkretisiert er ins Beliebige: "Ich kann auch sagen 'Rassisten im Schafspelz' - oder was immer Sie wollen." Verbalangriffe gegen die AfD kommen auch von der CDU-Ministerin von der Leyen ("Sie sind eine, wie Sie sagen, junge Partei, aber Sie haben uralte Antworten") und SPD-Mann Stegner ("Sie sind eigentlich für nichts, was für normale Leute gut ist"). Beatrix von Storch, stellvertretende Vorsitzende der AfD im Bund, ficht das nicht an. Sie lächelt fortwährend ihr spöttisches Lächeln, das so viel wirkungsvoller ist als jeder Konter, weil es unangreifbar ist. Zum Schluss fällt ihr dann noch eine hintergründige Spitze ein: "Rechts der CDU ist man immer noch in der Mitte."

Wer findet die kreativste Erklärung für den Ausgang des Wahlsonntags?

Politikwissenschaftler und CSU-Mitglied Oberreuter zitiert eine Befragung von Infratest dimap, wonach "ein Zwei-Drittel-Anteil derer, die zur AfD geflüchtet sind, die CSU gewählt hätten, hätte es die Chance gegeben". Die Schlussfolgerung liefert er gleich mit: in der Flüchtlingsfrage mehr Seehofer, also "die reale Beherrschungsidee neben die humanitäre" stellen.

Überstrapazierter Satz?

"Die Menschen erkennen die Arroganz der Macht." (Beatrix von Storch)

Parteispitze oder zweite Garde - wie illuster ist die Gästeliste?

Eine Elefantenrunde sieht anders aus, aber gut, die Sendung läuft nicht mal nach dem Tatort - und in Berlin wollen ja ganz viele Irgendwie-ist-doch-jeder-ein-Sieger-Selfies geschossen werden. Man möchte sich vorstellen, dass solche undankbaren TV-Jobs am Wahlabend parteiintern ausgelost werden. Das kurze Stöckchen gezogen haben: Peter Tauber, Generalsekretär der CDU, Thomas Oppermann, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, Frauke Petry, Bundessprecherin der AfD, und Katrin Göring-Eckardt, Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion. Komplettiert wird die Gästeliste von Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo.

Worum soll es eigentlich gehen?

Um die Frage: "Wahlen im Land - Quittung für Berlin?"

Worum geht es tatsächlich?

Um hochkreative Schönmalerei - Bob Ross hätte seine wahre Freunde an so viel Pastelltünche auf schwarzen Prozentzahlen. Peter Tauber, dessen CDU einzig in Sachsen-Anhalt zufrieden sein kann, sagt: "Für die CDU hat das Ergebnis Licht und Schatten." Thomas Oppermann, dessen SPD in zwei Landtagen künftig weniger Sitze als die AfD haben wird, findet: "Es ist ein sehr gemischtes Wahlergebnis für die SPD." Aber es überwiege dann doch die Freude über den "grandiosen Wahlsieg" von Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz. Und Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckart, die wohl mit Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg noch einmal den Ministerpräsidenten stellen darf, aber in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt gerade so die Fünf-Prozent-Hürde geschafft hat, fordert: "Es ist ein riesiger Sieg und da darf man auch mal fünf Minuten stolz drauf sein."

Gemischt ist also das neue gut - kein Wunder, dass Journalist di Lorenzo vor "Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit" warnt.

Wie viel wird gestänkert?

Ordentlich. Peter Tauber sagt zu Frauke Petry: "Wenn Sie zuhören, lernen Sie auch - das ist ein Prinzip der Pädagogik." Frauke Petry provoziert die Runde: "Ist es die deutsche Einwanderungsstrategie, für ethnische Säuberung in der Türkei zu sorgen?" Und selbst Moderatorin Illner mischt ein bisschen mit. Sie wirft SPD-Politiker Opperman vor: "Sie haben das drei Wochen vor der Wahl erfunden." Und meint das Solidaritätsprojekt der Sozialdemokraten.

Wer findet die kreativste Erklärung für den Ausgang des Wahlsonntags?

Giovanni di Lorenzo sagt: "Herr Kretschmann ist die Verkörperung eines CDU-Ministerpräsidenten." Diese Lesart der Wahlergebnisse ist nicht direkt neu, aber immer noch wahnsinnig plakativ.

Überstrapazierter Satz?

"Wenn man nach Bayern schaut, sieht man, dass sehr viel sehr gut läuft, was die Unterbringung angeht, was die Integration angeht, deshalb versteh' ich immer gar nicht, warum Horst Seehofer nicht rumläuft und erzählt: 'Ich bin total stolz auf meine Bayern, weil sie das so gut machen.'" Sagt Grünen-Fraktionschefin Göring-Eckardt. Ernsthaft, Horst Seehofer ist plötzlich der parteiübergreifende Posterboy der Flüchtlingskrise?

Nachtrag: Wer im Übrigen wirklich klare Ansagen will an diesem Sonntagabend, der schaltet am besten SWR Baden-Württemberg ein. Dort gibt es eine kurze Interviewrunde mit den Frauen der Spitzenkandidaten, also jenen "Damen, die nicht auf dem Stimmzettel standen, aber durchaus ein gewisses Gewicht hatten". Klingt maximal klischeelastig? Ja, aber glücklicherweise ist auch Gerlinde Kretschmann anwesend und gibt eine sehr bestimmte Antwort. Danach gefragt, ob sie sich denn auch als Sieger fühle, sagt die First Lady des Ländles: "Ja. Ich habe dazu auch mein Scherflein mit beigetragen."

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