W&V: Standort Berlin:Ein Spielplatz für Kreative

Berlin boomt. Ständig öffnen neue Agenturen oder Filmproduktionen in der Hauptstadt. Doch der Hype trübt manchmal den Blick auf die Realität. Impressionen aus dem kreativen Hotspot.

Florian Zettel und Peter Hammer

An diesem Tag im November kehrt der Winter in der Hauptstadt ein. Die Thermometer pendeln sich um den Gefrierpunkt ein, vom Nordosten bringt eine Strömung Schnee und der anstehende Besuch des russischen Ministerpräsidenten lässt den Verkehr im Regierungsviertel der Kreativhauptstadt kollabieren.

Scholz & Friends Berlin

Nach dem Mauerfall zog es Scholz & Friends zuerst nach Dresden, dann nach Berlin in einen Prachtbau in Mitte. Dort ist sie mittlerweile die größte Kommunikationsagentur.

(Foto: Scholz & Friends)

Monika Schwan bekommt davon nichts mit. Das Regierungsviertel ist weit weg - nicht nur räumlich -, es wäre ihr vermutlich auch egal, sie hat andere Probleme zu lösen. Seit einem Jahr leitet sie das Projekt Kreativagentur Friedrichshain-Kreuzberg. Sie hat viel zu tun, das Geschäft brummt. Die Krise hat die Nachfrage sehr stark ansteigen lassen.

Anders als es der Name vermuten lässt, bieten Schwan und ihre drei Mitarbeiter keine Kreativleistungen an, sondern stehen Unternehmern der Kreativszene als Berater zur Seite. Ob Werbeagentur, Designer oder freie Musiker - die gebürtige Schweizerin mit dem ausgeprägten Berliner Dialekt soll im Auftrag der Europäischen Union und der Wirtschaftsförderung Friedrichshain-Kreuzberg den Bezirk als Kreativhochburg stärken und ausbauen.

"Das Angebot wird sehr gut angenommen. Mit Ablauf des Jahres haben wir 150 Kunden betreut. Der Bereich Design zählt zu unserer größten Kundengruppe. Aber auch die Spiele- und Musikbranche fragt unsere Dienste immer mehr nach", sagt Schwan.

Obwohl sie sich vor Aufträgen kaum retten kann, ist das Projekt begrenzt. Nach 30 Monaten ist Schluss, im Sommer 2012 laufen wie geplant die Mittel aus. Rund 250.000 Euro stehen Schwan und ihrem Team in dieser Zeit zur Verfügung.

Nicht viel für den zweitgrößten Bezirk der Stadt, der in diesem Bereich mehr als ein Drittel des Umsatzes erwirtschaftet. Das weiß auch Monika Schwan, und trotzdem ist sie mit der Bezirksarbeit zufrieden. "Der Behörde liegt die Kreativwirtschaft sehr am Herzen, und das merkt man auch."

Hart umkämpfte Fördergelder

Seit 2004 fördert das Land Berlin gezielt die sogenannte Kreativwirtschaft, einen konstant wachsenden Bereich. Im vergangenen Jahr zählte dieser Sektor allein 25.600 Unternehmen mit etwa 180.000 Erwerbstätigen. Sie erwirtschafteten 18 Milliarden Euro Umsatz - etwa 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Hauptstadt. Nicht mitgerechnet die Heerscharen von Freiberuflern, die durchschnittlich weniger als 17.500 Euro jährlich umsetzen.

Auf der anderen Seite flossen rund 60 Millionen Euro Steuergelder an Fördermitteln. Glaubt man Almuth Nehring-Venus, Staatssekretärin in der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen, so bleibt die Kreativwirtschaft weiter im Aufwind.

Klingt überzeugend. Doch "was die Förderungen angeht, ist die Lage in der Hauptstadt schwierig. Die Nachfrage nach Kapital ist groß, aber die Fördertöpfe für die Kreativwirtschaft werden nicht ausgeschüttet", kritisiert Martin Genzler, Geschäftsführer der Agentur AMSJ das wenig effektive Prozedere. Die Online-Werber um Alexander Schimkat (Ex-komm.passion ), Martin Genzler (Ex-Media Consulta), Stefan Pscheidl (Ex-komm.passion) und Jan Woltering sind erst vor wenigen Tagen gestartet.

Vielleicht ist das auch ein personelles Problem der Behörde. Schließlich arbeiten dort nur rund zehn Mitarbeiter für die Förderung der Kreativwirtschaft. Andere Großstädte sind personell besser ausgestattet.

Andererseits: An Arbeit wird es auch in den kommenden Monaten weder Monika Schwan noch ihren Kollegen in der Senatsverwaltung fehlen. Die frühere Werberin Schwan sitzt mit der Agentur in der Nähe des Moritzplatzes in einem Hinterhof. Wie überall in Berlin tönt auch hier der Baulärm durch die Fenster. Die Stadt ist im Aufbruch und Aufbau - und wird es wohl auch immer sein.

Gegenüber entsteht in der leer stehenden Pianofabrik ein Themenhaus für kulturelle Projekte. Das Modulor, ein Kaufhaus für Künster- und Kreativenbedarf, und der Aufbau-Verlag ziehen hier ein. Der Standort soll zudem mit Veranstaltungsräumen und Galerien das Epizentrum für Kultur im Kiez bilden.

Solche Modelle, in denen sich Kreative aller Sparten zusammenschließen oder vernetzen, sind in Berlin beliebt. Denn im Gegensatz zu anderen Großstädten ist hier kaum Großindustrie angesiedelt. Martin Genzler: "Das Networking, der Austausch, funktioniert leichter als anderswo, weil die Branche sehr lebendig ist. So etwas wie das Soho-House, das sich speziell an die Kreativ- und Medienbranche richtet, das gibt es sonst nirgends in Deutschland."

Auch der Hamburger Hof ist so ein Beispiel. Der Gebäudekomplex in der Großen Hamburger Straße in Berlin-Mitte wird seit Ende Oktober von acht Firmen aus der Film- und Kommunikationsbranche bevölkert. Ein Blick auf die goldene Kuppel der Synagoge, der Privatpark mit Zugang vom Hinterhof - von so etwas kann man in anderen Städten nur träumen, denn nur in Berlin sind solche attraktiven Immobilien noch bezahlbar.

Kreative schwören auf Hauptstadt-Flair

Die ansässigen Firmen wollen von Berlin aus ihr Wachstum fortsetzen und hoffen dabei auf die Sogwirkung, die die Hauptstadt auf die internationale Kreativszene hat. "An allen Ecken und Enden brodelt es, die Subkultur kommt wieder voll ins Bewusstsein. Die Stadt ist voller Spannungen, und genau diese Mischung ist es, die kreative Arbeit fördert und befruchtet. Die Stadt ist unheimlich inspirierend", sagt Franco Tortora, Mitinitiator des Hamburger Hofs.

Der Chef und Gründer von Mona Davis Beat, einer Musikproduktion für Werbung, hat mit 49 Jahren seine Heimat in München verlassen, um in der Hauptstadt Wurzeln zu schlagen und eine neue Filiale aufzumachen. Tortora glaubt an Berlin, auch wenn er keine Erwartungen an die Stadt hat. "Wir wollen uns von der Stadt treiben lassen. Aber natürlich muss dieser Standort auch in ein paar Jahren profitabel sein."

Glaubt man den Statistikern von der IHK Berlin, so gab es in Berlin 2008 allein 2550 Agenturen im Werbe- und PR-Bereich. Hinzu kommt eine wachsende Infrastruktur aus Druckereien, Werbefilmproduktionen und anderen Dienstleistern. Und es werden von Monat zu Monat mehr.

So zogen 2010 unter anderem die Produktionen Tony Petersen Film und Tempomedia, die Online-Agentur DMC, die Interactive-Spezialisten von Akqa, aber auch Ogilvy in die Hauptstadt. Letztere übrigens zum zweiten Mal. Schon kurz nach dem Mauerfall war das Frankfurter Network mit einem Büro in Berlin. Doch sieben Jahre später kam das Aus - wegen Unrentabilität.

Weshalb jetzt ein erneuter Anlauf? Noch immer sind ortsansässige Auftraggeber rar. Keines der 30 Dax-Unternehmen hat seinen Sitz in Berlin. Erste große Firmen wie Daimler, aber auch Ryanair haben angekündigt, sich teilweise oder ganz aus der Metropole zurückzuziehen. Trotz vieler Neugründungen ist der zur Verfügung stehende Büroraum größer geworden, denn viele Firmen haben verkleinert.

"Wir glauben, dass es in keiner anderen Stadt so viel kreatives Potenzial gibt. Vor allem im digitalen Bereich. Nach Berlin kommen auch Talente aus dem Ausland", sagt Michael Samak, Chef der Frankfurter Network-Agentur Saatchi & Saatchi. Eine fast schon stereotype Antwort. Die Hessen wollten eigentlich 2010 ihr Büro an der Spree eröffnen, mussten das Projekt erst mal nach hinten schieben. 2011 aber soll es klappen.

Dass die Hauptstadt bereits jetzt kreative Spitze ist, daran hat Notker Schweikhardt keinen Zweifel. Der studierte Architekt und Creative Director ist ehrenamtlich Leiter des Arbeitskreises Kultur bei den Berliner Grünen. Für den Hobbypolitiker gibt es auf kreativer Ebene in Deutschland kaum eine Alternative: "Berlin ist stilbildend, trendsetzend und meinungsführend. Kein anderer Standort ist für Kreative so inspirierend wie Berlin", sagt Schweikhardt bei Wasser und Kuchen im Café Barcomi's in Berlin-Mitte.

Doch die finanzielle Lage sei desaströs. "So müssen in Berlin 25 Prozent der Kreativen von weniger als 10.000 Euro Jahresgehalt leben, für Künstler ist das sogar das durchschnittliche Jahreseinkommen. Das sind weniger als 850 Euro im Monat."

"Krisen seit Jahren gewohnt"

Viele können ohne einen Zweitberuf nicht existieren, weiß Monika Schwan, selbst wenn sie sich bereits einen Ruf erworben haben. Problem: Es werden immer mehr. Jährlich spucken allein die Berliner Hochschulen 5000 Nachwuchskreative auf den Arbeitsmarkt. Hinzu kommen die vielen Zugereisten aus der ganzen Republik.

Schweikhardts Chefin Renate Künast will das ändern, wenn sie erst Regierende Bürgermeisterin ist. Aber wie soll das gehen bei einem eingefrorenen Haushalt und maroder Finanzlage? "Eine Lösungsansatz wäre es, wenn man öffentliche Förderung nur noch an Unternehmen und Projekte vergibt, die ihren Kreativen einen Mindestlohn zahlen", so der Grüne, für den es untragbar ist, dass der Bürgermeister aus Kostengründen das Kulturressort in sein Amt eingemeindet hat.

"Es war ein Fehler von Klaus Wowereit, den Posten des Kultursenators abzuschaffen", sagt Schweikhardt und zitiert Stephan Feucht, Geschäftsführer des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im BDI: "Berlin ohne Kultursenator ist wie Kuwait ohne Ölminister." Für Kreative fehle deshalb eine zentrale Anlaufstelle, die die Grünen wieder einführen wollen.

Anders als Schweikhardt liegt Hendrick Melle ein Wechsel an der Spitze des Senats nicht besonders am Herzen. "Das Gute an der bisherigen Kulturpolitik war, dass Klaus Wowereit bislang nicht in die Abläufe eingegriffen hat. So konnte sich die Kreativszene weiter eigenständig entwickeln", sagt der Kreativchef der Grey-Beteiligung Dorland. Berlin brauche auch keine Gehhilfen mehr. "Die letzte Krise hat Berlin nicht mehr so erschüttert, weil Berlin seit Jahren Krisen gewohnt ist."

Melle, der wegen notorischer Renitenz einst aus der DDR gewiesen wurde, sieht in der Hauptstadt den "Spielplatz der Nation". Keine andere Stadt biete so viel Vielfalt wie Berlin. "Hier herrscht eine Grundlässigkeit wie in keiner anderen deutschen Stadt." Zudem sei hier der "ökonomische Druck" nicht so immens. Dass die Dax-Konzerne irgendwann einmal Berlin für sich entdecken, glaubt auch Melle nicht. Stattdessen sieht er die Wirtschaftszweige Greentec, Entertainment, Tourismus und Lehre im Kommen.

Rein rational ist der Hype um die Hauptstadt nicht zu erklären. "Berlin lebt von einem Mythos, der sich im Kopf festgesetzt hat", sagt Ingeborg Trampe voller Überzeugung. Die freie PR-Beraterin hat viele Jahre lang für Agenturen und Firmen auch in anderen Großstädten gearbeitet und kennt die Schattenseiten der Spreemetropole.

So das geringe Angebot an ortsansässigen Auftraggebern, aber auch das deutlich niedrigere Honorarniveau. Gut 20 Prozent weniger verdient Trampe im Stadtstaat - und freut sich daher über jeden Nicht-Berliner Kunden. Doch wegziehen will sie nicht.

Was des einen Leid, ist des anderen Freud. Für so manchen Chief Finance Officer in Hamburger, Düsseldorfer, Frankfurter oder gar Münchner Agenturen dürften die niedrigeren Kosten in Berlin ein nur allzu verlockendes Angebot sein. Um etwa 20 Prozent niedrigere Gehälter, ein Heer von wohlfeilen Freelancern, endlich mal richtig erschwingliche Mieten und deutlich attraktive Lebenshaltungskosten machen Laune. Denn dem Kunden ist es letztlich egal, wo die große Kampagne entstanden ist. Er bezahlt den vereinbarten Preis.

Und freut sich, zu Abstimmungsgesprächen ins "wilde" Berlin zu reisen. Wenn der mit Scherben bedeckte Weg in die Agentur über marode Hinterhäuser führt und zwielichtige Gestalten die Gänge bevölkern, ist das emotionaler Mehrwert für den Marketer, den er gern goutiert. Und unter Kollegen weitererzählt.

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