W&V: Hybrid-Fernsehen:Per Knopfdruck um die Welt

Oft angekündigt, jetzt vor dem Durchbruch: Hybrid-Fernsehen. Neue Geräte verschmelzen Internet und klassisches TV. Doch zum Boom fehlt es noch - und auch an einheitlichen Standards.

Sigrid Eck

Für die Kunden des amerikanischen Telko-Unternehmens Verizon hat die Zukunft bereits begonnen: Sie können zu Hause 400 Fernsehsender einschalten, dazu 130 HD-Kanäle, und - sollte das noch nicht ausreichen - Videos, Facebook, Twitter, Sportergebnisse oder das Wetter abrufen. Knapp drei Millionen US-Bürger nutzen Internet-Fernsehen schon.

Verizon Fios gilt heute, neben Orange TV in Frankreich, als Paradebeispiel für das Zusammenspiel der Medien Internet und Fernsehen. Künftig wäre folgendes Szenario auch in Deutschland denkbar: Der Zuschauer sitzt vor dem Fernseher und sieht eine Kochsendung. Ihn interessiert das dort verwendete Küchenmesser. Deshalb drückt er den roten Knopf auf seiner Fernbedienung.

Sofort erhält er aus dem Internet Informationen oder kann den Artikel umgehend bestellen. Hybrid-TV nennt sich die neue Technologie, offiziell HbbTV (Hybrid Broadcast Broadband TV). Soll heißen, Fernseh- und Web-Inhalte sind auf einem ganz normalen Flachbildschirm zu empfangen. In den sind TV-Receiver und Computer-Komponenten bereits integriert.

Wenn die Zahlen sprechen

Die Entwicklung nimmt in Deutschland an Fahrt auf. "Die Integration von Internet und TV ist einer der wichtigsten Trends in der Unterhaltungselektronik", sagte Achim Berg, Vizepräsident des Berliner Branchenverbands Bitkom, vor wenigen Tagen. Der Fernseher entwickle sich zusehends zum Multifunktions-Gerät.

Noch können nur wenige Konsumenten mit dem sperrigen Begriff HbbTV etwas anfangen. Doch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. In nur 16 Monaten haben Fernseher mit integriertem Internet-Anschluss einen Marktanteil von 36 Prozent erreicht. Als die ersten Hybrid-Geräte im März 2009 in die Verkaufsregale kamen, lag ihr Umsatz nur bei mageren 0,4 Prozent. Mittlerweile sind 1,3 Millionen Geräte verkauft worden. Alleine im Juni waren es 160 000.

Laut einer Umfrage des Beratungsunternehmens Deloitte, München, zusammen mit der Bitkom möchte fast jeder zweite Deutsche (46 Prozent) seinen Fernseher ans Internet anschließen, um sich dort Web-Inhalte anzusehen. Bei den unter 30-Jährigen liegt der Anteil gar bei 94 Prozent. Und das Hamburger Marktforschungsinstitut Aris hat im Auftrag der Bitkom herausgefunden: Fast ein Drittel der Befragten will auf seinem TV-Gerät E-Mails lesen und schreiben. Jeder Sechste möchte auf diesem Weg chatten, jeder Achte Pizza und Bier für einen Fernsehabend bestellen, und jeder Zehnte Videotelefonate führen. Jeder sechste Senior ab 65 Jahre interessiert sich vor allem für eine medizinische Versorgung per Fernseher, beispielsweise in Form einer Unterhaltung mit dem Hausarzt.

Der Boom soll anhalten: Bis 2015 werden nach Schätzungen des Berliner Beratungsunternehmens Goldmedia 61 Prozent der deutschen Haushalte mit solchen Mehrzweck-Empfängern ausgestattet sein. Nun sind die Bestrebungen, mittels eines Gerätes zwei Medien nutzen zu können, schon ziemlich lange im Gange. Branchenexperten erinnern sich, dass bereits 1995 die Rede davon war. Aber warum kommt gerade jetzt Bewegung in das Thema? "Die Geräteindustrie hat die Entwicklung mit vorangetrieben", sagt Klaus Böhm, Director Media bei Deloitte. Die neuen Applikationen tragen zur Kundenbindung bei. Nach der Nutzerregistrierung hat der Hersteller die Möglichkeit, Zusatzdienste anzubieten. Außerdem können sich Philips, Samsung & Co. nun als Trendsetter präsentieren.

So offeriert beispielsweise der Philips Net TV 300 Internet-Angebote und auch den Zugang ins offene Internet. Darüber hinaus kann sich der Zuschauer bei Videolaod bedienen: 500 Titel stehen ab Abruf für 24 Stunden zum Ansehen zur Verfügung. Konkurrent Samsung kooperiert dagegen mit Yahoo. Mit einem Knopf auf der Fernbedienung ruft man das "TV-Widget-Dock" und kombiniert sein TV-Programm mit Internet-Elementen.

Standard-Tanz in Europa

Hybrid-Fernsehen hat viele Facetten. Ausschlaggebend aber ist, dass es für Europa einen einheitlichen Standard gibt. "Deutschland und Frankreich haben HbbTV entscheidend nach vorn getrieben", meint Deloitte-Manager Böhm. "Sie hatten den globalen Blick." Die Erfahrung lehrt: Nur wenn es einen einheitlichen Standard gibt, zieht der Konsument mit. Unterschiedliche technische Angebote, die nicht zusammenpassen, haben schon so mancher technischen Neuerung den Garaus gemacht - so auch ehemaligen Hoffnungsträgern von Video 2000 über DAT und Quadrophonie bis zur Bildplatte.

Die Sender spielen eine wichtige Rolle bei der neuen Entwicklung. Sie ziehen mit und liefern erste Angebote. Auf der diesjährigen Internationalen Funkausstellung (Ifa) in Berlin (3. bis 8. September) werden sie vorgestellt. Die ARD setzt sogar ihren gesamten Ifa-Auftritt unter das Motto Hybrid-Fernsehen. Messebesucher können dann erleben, wie man per Fernbedienung während des laufenden Programms auf redaktionelle Zusatzdienste wie die ARD-Mediatheken oder den elektronischen Programmführer EPG zugreift.

RTL Digitaltext nennt sich das kostenlose, werbefinanzierte Angebot der Mediengruppe RTL Deutschland. Das digitale Teletext-Angebot, eine Weiterentwicklung des bisherigen RTL-Textes, geht auf der Ifa in den Regelbetrieb. Erstmals lassen sich hochauflösende Bilder und Videoinhalte in Form von Trailern in der Programmvorschau oder für Werbespots einspeisen. "Werbungtreibende haben nun die Gelegenheit, gezielt ihre TV-Spots interaktiv zu verlängern und anzureichern", heißt es bei RTL.

Inhalte in Großdruck

HbbTV von SevenOne Intermedia, dem Multimedia-Unternehmen der Senderfamilie, beginnt ebenfalls Anfang September mit dem Testbetrieb. SevenOne Media, der Vermarkter von ProSiebenSat1, hat mit dem Autohersteller BMW bereits den ersten Kunden gefunden. Auch die Satellitenbetreiber haben das Thema für sich entdeckt: Eutelsat enthüllt in Berlin mit Kabelkiosk interaktiv seine Zusatzdienste. Online-Inhalte lassen sich mit vergleichsweise einfachen Mitteln aufbereiten, das erklärt die große Zahl der Angebote. Sie müssen nur so gestaltet sein, dass man sie auch noch aus drei Metern Entfernung vom Sofa aus lesen kann.

Schon heute seien Video-on-Demand, private Videosammlungen und das Abrufen von Musik besonders gefragt, weiß Deloitte-Manager Böhm. "Der TV-Nutzer hat - auch wenn er sich im Lean-back-Modus befindet - ein Interesse an einem Zusatznutzen." Folglich sei er für Informationen und für Werbung wie Targeting bestens erreichbar. Die Werbebranche entdeckt HbbTV nur langsam. Schon einen Schritt weiter ist die Düsseldorfer Media-Agentur Crossmedia, die sich intensiv mit hybriden Werbemöglichkeiten befasst. Jetzt soll die aktuelle Hornbach-Kampagne "Das grenzenlose Haus" eingesetzt werden. Sie eigne sich ideal dafür, findet Holger Zech, stellvertretender Geschäftsführer Crossmedia, die jetzt schon "sehr positiven Wirkungsweisen der angelaufenen Kampagne in einem weiteren Kanal zu überprüfen und wichtige Benchmarks zu ermitteln."

Via HbbTV könnte es so ablaufen: Der Zuschauer sieht den Hornbach-Trailer, er gefällt ihm, worauf ein Druck auf den roten Knopf weitere Informationen zutage fördert oder zu Facebook umleitet. Für den Crossmedia-Manager ist es "ein spannender Ansatz", zu sehen, ob der Fernsehzuschauer beim gewünschten Programm bleibt oder einen anderen Inhalt in Form eines Werbespots bevorzugt.

Erst muss die Marke bei den Verbrauchern verankert werden. "Das Wichtigste ist jetzt die Öffentlichkeitsarbeit", findet Jürgen Sewczyk. Der Berater und Vorsitzende der Arbeitsgruppe Hybride Endgeräte bei der Organisation Deutsche TV-Plattform, Frankfurt/Main, will gezielt Multiplikatoren ansprechen und das Thema auf Kongressen vorantreiben.

Die Zugkraft fehlt

Die Geräteindustrie bewirbt die neuen Features noch recht dezent. Philips Net TV schulte zwar die Fachhändler und führte auch Aktionen am Point of Sale durch. Aber das war 2009. In diesem Jahr registrierte die Frankfurter Gesellschaft für Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik (GFU), in dem elf führende Unternehmen organisiert sind, noch keine großen Marketingaktivitäten.

Euphorie im Markt einerseits, werbliche Zurückhaltung anderseits: Letzteres liegt vielleicht auch daran, dass Unternehmen wie Sony und LG, die ihren Sitz in Japan haben, noch überlegen, ob sie sich HbbTV anschließen oder doch ihren eigenen Weg gehen.

Und: Die Privatsender wollen ihr Geschäftsmodell gesichert sehen. "HbbTV an sich ist noch keine Komplettlösung", warnt Andre Prahl, Mitglied der Geschäftsleitung des Kölner TV-Dienstleisters CBC und verantwortlich für die Programmverbreitung der Mediengruppe RTL Deutschland. Die Gerätehersteller müssten dafür Sorge tragen, dass beim Empfang des Digitaltextes klare Inhalte- und Signalschutz-Regeln eingehalten werden. "Dazu gehört, dass unser Inhalt nicht verändert und Werbung nicht umgangen beziehungsweise automatisch ausgeblendet werden kann", fordert der CBC-Chef.

Im Dschungel der Gesetze

Überhaupt ist Werbung bei HbbTV noch ein Reizthema. "Während für die Internet-Angebote keine Werbebeschränkungen gelten, sind die Fernsehsender in diesem Bereich immer noch streng reguliert", kritisiert Jürgen Doetz, Präsident des Verbands Privater Rundfunk- und Telemedien (VPRT), Berlin. Deshalb plädiert der VPRT-Chef für "eine neue Medienordnung, die gattungsübergreifend einheitliche Spielregeln und Werbevorschriften definiert". Ansonsten gelte für die linke Bildschirmhälfte etwas anderes als für die rechte. "Diese Situation ist absurd und verzerrt den Wettbewerb massiv zu Lasten der Fernsehanbieter", ärgert sich Doetz.

Bevor man überhaupt Werbung sehen mag, müsse die Fernbedienung benutzerfreundlicher werden, kritisiert Medienexperte Sebastian Becker von der Münchner Beratungsfirma Thebrainbehind. Der Konsument würde eher zum Kauf eines Hybrid-TV verlockt, wenn er alles über ein Smartphone steuern könnte statt über eine unübersichtliche klassische Fernbedienung. Genau das soll Google TV ermöglichen. Der Internet-Riese Google will das Projekt im Herbst dieses Jahres starten. Auch hier verschmelzen TV und Netz miteinander und werden über eine einheitliche Oberfläche zugänglich. Der Deutschland-Start ist offen, jetzt sind erst einmal die USA dran. Die Meinungen, wie die Konkurrenz einzuschätzen ist, gehen im Markt auseinander. Während die einen Google als Gegenspieler zum europäischen Standard sehen, halten andere das Projekt für eine "Seifenblase". Eins steht aber fest: Google treibt das Thema Hybrid-Fernsehen zusätzlich voran.

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