Vox-Doku über das Kriegsende 1945:Plötzlich wirkt alles viel näher

12 Städte

Die Farbfilme der US Air Force bringen dem Zuschauer die Gesichter der Menschen viel näher als die Schwarz-Weiß-Bilder, die damals üblich waren.

(Foto: vox/spiegel TV)

Ganz schön ehrgeizig für den "Shopping Queen"-Sender: Mit einer Zwölf-Stunden-Dokumentation erinnert Vox an das Kriegsende. Aber siehe da: Das Projekt gelingt.

Von Joachim Käppner

Gäbe es ein Ranking der Fernsehstationen, deren Sendungen man aus guten Gründen lieber nicht betrachtet hätte, wäre dem Sender Vox einer der vorderen Plätze sicher. Gewiss, im digitalen Zeitalter lässt sich unter gefühlt 2000 Programmen vieles noch Dümmeres finden als zum Beispiel Viva Mallorca!, mit dem der Sender die Zuschauer vergangene Woche über Stunden misshandelte.

Aber gut, ist ja alles freiwillig, und man weiß dann wenigstens wieder, wofür man die Gebühren des Öffentlich-Rechtlichen zahlt. Um so ehrgeiziger erscheint das Vorhaben, sich in einer Sondersendung, neudeutsch "Doku-Event", gleich zwölf Stunden lang dem Kriegsende vor 70 Jahren zu widmen. Von zwölf bis 24 Uhr strahlt Vox die Spiegel-TV-Dokumentation 12 Städte, 12 Schicksale aus.

Thema sind die letzten Wochen vor und nach dem 8. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches. Der Krieg war längst auf das Land zurückgeschlagen, das ihn über Europa und die Welt gebracht hatte. Deshalb gehören elf der zwölf Städte zum damaligen Deutschen Reich, mit Amsterdam ist nur eine aus den vielen Ländern vertreten, über die Hitlerdeutschland hergefallen war. Aber die holländische Großstadt erreichten die Befreier erst am 5. Mai 1945.

Unerschütterlicher Glaube an den "Endsieg"

Jede Stadt steht symbolisch für ein bestimmtes Thema; das ist ein gelungener roter Faden, mit denen die Autoren Michael Kloft und Hendrik Behrendt die naheliegende Gefahr der Wiederholung des immer Gleichen vermeiden. Amsterdam steht für Verfolgung der Juden; Köln für die nahezu völlige Zerstörung einer alten Kulturstadt; Danzig für Flucht und Vertreibung; Nürnberg für den Fanatismus, der dort, wo der antisemitische Hetzer Julius Streicher agitierte, noch beim Anrücken der US Army sehr verbreitet war. Ein Zeitzeuge berichtet, wie verhetzte Halbwüchsige an die Front geschickt wurden und immer noch an den "Endsieg" glaubten. Eine andere schildert ihre Gefühle beim Anblick der amerikanischen Panzer: "Wenn die dasselbe anstellen wie wir, dann Gnade uns."

Sie haben es nicht getan, aber der Satz wirkt nach: Im Augenblick der Niederlage wussten viele Deutsche, die sich später über "Kollektivschuld" beklagten, sehr genau, was sie selber als Eroberer angerichtet hatten. Das große Vergessen überkam sie erst später, als sie verkündeten, nur ihre "Pflicht" getan zu haben.

Die Zeitzeugen, unter ihnen die Schauspieler Mario Adorf, Hardy Krüger und Ingrid von Bergen sowie Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, sind eine Stärke des Zwölfstünders. Nicht nur aus Guido-Knopp-Fernsehspektakeln ist die Unsitte bekannt, Augenzeugen zu Stichwortgebern zu reduzieren, deren Aussagen man noch mit melodramatischer Musik verstärkt. Hier ist das anders. Das liegt an der Regie, die den alten Herrschaften Zeit gibt, ihre Geschichte zu erzählen, mag ihnen das auch sichtbare Pein bereiten.

"Ich habe den Belgier erschossen"

Hardy Krüger etwa, der später im Film gern den ganz harten Kerl spielte, berichtet davon, wie er als in Uniform gesteckter NS-Eliteschüler in den letzten Kriegstagen getötet hat. Allerdings nicht "den Feind". Er brachte es, wie er erzählt, nicht über sich, auf US-Soldaten zu schießen, deren Gesichter er aus seinem Versteck sehr genau erkennen konnte - dafür hat ihn ein SS-Richter beinahe hinrichten lassen, Krüger entkam dem Standgericht nur durch schieres Glück. Aber der Krieg war für ihn noch nicht vorbei.

Einige Offiziere der SS-Division "Nibelungen", welche junge Menschen in die Einsätze trieben, kamen aus Nachbarländern, offenbar "Volksdeutsche". Von 120 Jungen aus seiner Einheit seien, so schätzt Krüger, etwa zwei Drittel gleich beim ersten Einsatz gefallen. Ein belgischer SS-Offizier sah einen Jungen, der beim Sturmangriff nicht mitlief, und erschoss ihn einfach. Es war ein Freund von Krüger. "Ich habe den Belgier erschossen", sagt Krüger vor der Kamera, "ich habe einfach reagiert, ich wusste gar nicht, was ich tue." Bald danach war der Krieg für ihn vorüber, er ging in amerikanische Gefangenschaft. Das Bild der Toten blieb für immer.

Die meisten Zeitzeugen, die heute noch von Krieg und Kriegsende erzählen können, waren damals Kinder; Krüger als jugendlicher Soldat ist schon die Ausnahme. Das kann bei Zeitzeugeninterviews zum Problem werden; Kinder waren Opfer, sie erlebten traumatische Dinge, verloren Eltern, Heimat und das Gefühl des Zutrauens ins Leben. Mit eigener Schuld, der großen Frage ihrer Eltern und Großeltern, mussten sie sich kaum auseinandersetzen. Wenn ein damals Neunjähriger erzählt, als Schüler hätten sie an Hitler geglaubt, dann ist das etwas anderes, als wenn ein früherer Berufsoffizier der Wehrmacht dasselbe über sich sagt.

Die Interviewpartner sind gut ausgewählt

Dennoch vermeidet der Film die reine deutsche Opferperspektive. Die befragten Experten verhindern das ohnehin, und die Interviewpartner sind gut ausgewählt; sie alle haben sich über das, was sie in so jungen Jahren erleben und erdulden mussten, über die Zeit viele Gedanken gemacht, über Schuld und Unschuld, über den Krieg und wer ihn begonnen hat.

Erstaunlich offen schildert Ingrid van Bergen, wie sie als 13-Jährige bei Danzig von einem Rotarmisten vergewaltigt worden sei. Ihrer Mutter habe sie dies nie erzählt. Dennoch sind ihre Erinnerungen nicht vom eigenen Leid überdeckt. Sie weiß noch, wie sie an erhängten deutschen Kindersoldaten vorbeikam, die Schilder trugen wie "Ich war feige vor dem Feind", Opfer der deutschen Standgerichte.

Vieles von dem, was die zwölf Stunden enthalten, ist nicht neu, wie auch; allein die Literatur zum Kriegsende füllt heute viele Regalmeter. Stark sind die Bilder - der Marathonfilm bewegt sich auf den Spuren eines Kamerateams der US Air Force, das von März bis Juli 1945 Europa in Farbe filmte. Die meisten Filme aus jener Zeit sind schwarz-weiß, was aus heutiger Sicht das Gefühl verstärkt, Ansichten einer längst vergangenen Epoche zu betrachten. Die Aufnahmen vom Kriegsende aber wurden in den National Archives in Washington bearbeitet. Die Gesichter von Siegern und Besiegten, die Gefangenenzüge, die zerstörten Städte. Plötzlich wirkt das alles viel näher. So nah, wie uns diese Vergangenheit immer noch ist, auch wenn sie 70 Jahre her sein mag.

1945. 12 Städte, 12 Schicksale. Vox, Samstag, 12 bis 24 Uhr.

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