Süddeutsche Zeitung

Vorwürfe gegen russischen TV-Sender:Falsche Antwort

Der russische TV-Sender Doschd hat anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung Leningrads eine provokante Frage gestellt. Jetzt soll er weg.

Von Julian Hans

Es war eine verdammt dumme und eine provokative Frage, über die der israelische Fernsehsender Kanal 9 am Wochenende seine Zuschauer abstimmen ließ, aber sie diente einem wichtigen Ziel: "Haben die Juden den Holocaust vielleicht selbst provoziert?" Kanal 9 sendet für die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion auf Russisch, und die Abstimmung war eine Solidaritätsaktion mit dem russischen Sender Doschd - und eine Lektion in Meinungsfreiheit. "Wir glauben, dass Journalisten das Recht haben, jede Frage zu stellen, und sei sie noch so provokant", erklärte man.

Der liberale Sender Doschd befindet sich seit vergangener Woche in arger Bedrängnis, nachdem er am 70. Jahrestag der Befreiung Leningrads von der Belagerung durch die deutsche Wehrmacht seinen Zuschauern die Frage stellte: "Hätte man Leningrad aufgeben müssen, um Hunderttausende Menschenleben zu retten?" Die Frage rührt in Russland an ein heiliges Tabu, den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitlerdeutschland. Er ist eines der wenigen Themen, das die Menschen über alle politischen Lager hinweg verbindet, zumindest emotional.

Alle Grenzen überschritten?

Nur zwölf Minuten war die Frage online, das reichte, dass Abgeordnete von Blasphemie sprachen und forderten, den Kanal auf "Extremismus" zu überprüfen. Doschd habe "alle Grenzen des Zulässigen überschritten", sagte Putins Sprecher Dmitrij Peskow: "Wenn wir anfangen, solche Umfragen zu tolerieren, beginnt bei uns die Erosion der Nation." Weder die Staatsanwaltschaft noch die Behörde für Verbraucherschutz fanden eine Grundlage für rechtliche Schritte. Dafür empfahl der Sprecher der russischen Vereinigung der Kabelnetzanbieter seinen Mitgliedern, Doschd aus dem Programm zu nehmen. Und einer nach dem anderen folgte.

Seit am Montag auch der größte Anbieter Trikolor TV ankündigte, die Zusammenarbeit mit Doschd zu beenden, ist dessen Existenz bedroht. Statt der bisher etwa 17 Millionen Haushalte wird er nach der Abschaltung durch Trikolor an diesem Wochenende nur noch etwa zwei Millionen erreichen. Damit bricht auch der Werbemarkt zusammen, über den sich der Sender zu 80 Prozent finanziert.

Lieblingsmedium der liberalen Mittelschicht

"Wir sind überzeugt, dass die Anbieter diese Entscheidung nicht aus eigenem Antrieb getroffen haben, sondern auf Druck von höherer Stelle", sagte der Unternehmer Alexander Winokurow, der Doschd 2010 gegründet hat. Von wem dieser Druck kam, können wir nicht belegen." Doschd war in den vergangenen Jahren zum Lieblingsmedium der liberalen, konsumfreudigen Mittelschicht in Russland geworden. Die Schwierigkeiten hätten begonnen, als sie über die Enthüllungen des Anti-Korruptions-Aktivisten Alexej Nawalny berichteten, erklärte Winokurow.

Dennoch will die Redaktion getreu ihrem Slogan "The Optimistic Chanel" weitermachen. Seit die ersten Kabelanbieter Doschd aus dem Programm nahmen, hat sich die Nachfrage im Netz verdreifacht. Auch von den Werbekunden kämen "sehr freundliche Signale", sagte Winokurow. "Die sagen mir: Wir brauchen euer Publikum!" In der Tat ist Doschd mehr als ein Oppositionskanal. Er unterscheidet sich nicht nur von den staatstreuen Sendern, er schlägt auch einen anderen Ton an als die meisten Kreml-kritischen Medien, die bisweilen selbst zynisch geworden sind.

Doschd ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme in Russland und ein gewagtes Unternehmen. Russische Journalisten können den Kreml fast nach Belieben kritisieren - solange sie es in einer Zeitung tun. Denn politische Zeitungen werden fast nur in der Hauptstadt gelesen und haben kaum Einfluss auf die öffentliche Meinung im Land. Ähnliches gilt für den liberalen Radiosender Echo Moskaus, der immerhin auch in einigen Regionen empfangen werden kann. Die landesweit ausgestrahlten Fernsehsender aber hat Putin gleich nach seinem Antritt als Präsident im Jahr 2000 unter seine Kontrolle gebracht.

Es wäre ein doppelter Dämpfer

Mindestens genauso ungewöhnlich ist in Russland aber, dass Doschd auch wirtschaftlich ein echtes Unternehmen ist. Obwohl der Markt in einem Land mit mehr als 140 Millionen Menschen gewaltig ist, gibt es kaum Nachrichtenmedien, die sich selbst finanzieren. Das Fernsehen bekommt sein Budget vom Staat oder von Gazprom Media, zu der auch Echo Moskaus gehört. Oppositionelle Zeitungen könnten ohne die Förderung von Stiftungen nicht überleben. Die oppositionelle Nowaja Gaseta etwa wird zu Teilen aus der Gorbatschow-Stiftung und von dem Bankier Alexander Lebedew finanziert.

Hinter Doschd steht mit Winokurow zwar auch ein ehemaliger Bankier, der versteht sich aber nicht als Mäzen, sondern als Investor. Vom kommenden Jahr an hätte Doschd Geld verdienen sollen. Scheitert der Sender, wäre das ein doppelter Dämpfer für junge und kreative Unternehmer, zu denen Winokurow selbst zählt: Sie verlieren ein Medium, in dem sie sich wiederfinden, und sehen wieder mal ein Unternehmen am Staat scheitern.

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SZ vom 06.02.2014/mfh
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