Süddeutsche Zeitung

"Von Atatürk bis Erdoğan":Polit-Roadmovie durch die Türkei

Was war eigentlich vor Erdoğan? Der deutsch-türkische Dokumentarfilmer Osman Okkan schickte eine junge Kölnerin mit türkischen Wurzeln auf Türkei-Reise. Ab Montag zeigt der WDR Geschichtsstunden, die alles andere als dröge sind.

Rezension von Luisa Seeling

Es fällt schwer, sich in diesen Tagen daran zu erinnern, aber: Nicht alle Demokratie-Probleme der Türkei haben mit Recep Tayyip Erdoğan angefangen, dem machthungrigen Präsidenten des Landes, der sich das politische System auf den Leib schneidern will. Viele sind älter, sie gehen zurück auf die Entstehungsjahre der Republik, als Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk die Nation mit teils rabiaten Methoden zu einen versuchte.

An diese weniger bekannten Kapitel der Geschichte will der deutsch-türkische Dokumentarfilmer Osman Okkan in seiner Doku-Reihe "Von Atatürk bis Erdoğan - Ferides Reise in die Türkei" erinnern, die der WDR von Montag an ausstrahlt. "Viele Dinge stehen in der Türkei nicht in den Schulbüchern, und auch die Jugendlichen hier in Deutschland wissen kaum etwas darüber", sagt Okkan. Seine Film-Reihe richtet sich an jüngere Zuschauer, in viermal 30 Minuten führt er sie durch die Geschichte der Republik, vom Zerfall des Osmanischen Reichs bis zu den jüngsten Kämpfen zwischen Armee und Kurden.

Herausgekommen ist keine dröge Geschichtsstunde, sondern ein atmosphärisches Polit-Roadmovie, was auch an der Erzählform liegt: Okkan lässt Feride Akgün, eine Mittzwanzigerin aus Köln, durch das Land ihrer Eltern reisen. Okkan und Akgün sind sich zufällig über den Weg gelaufen, mitten im Gewühl der Gezi-Proteste im Sommer 2013. Der Filmemacher plante da schon länger eine Filmreihe über die Türkei, die auch an Schulen und Unis als Lehrmaterial zum Einsatz kommen soll. In Feride Akgün, damals Praktikantin in einem Korrespondentenbüro, fand er seine ideale Protagonistin.

"Ich weiß gar nicht, ob diese Straßenzüge noch stehen"

"Für sie war vieles Neuland, sie hat ganz unvoreingenommen Fragen gestellt, so hat sie das Land entdeckt", erzählt Okkan. Und der Zuschauer entdeckt es mit ihr: Er folgt Akgün durch die Gassen von Istanbul, reist mit ihr nach Ankara und in den Südosten, nach Diyarbakır und Mardin; besucht historisch bedeutsame Orte wie das Atatürk-Mausoleum und blickt ihr über die Schulter bei Gesprächen mit Wissenschaftlern, Aktivisten und Politikern.

Okkan, der seit 1965 in Deutschland lebt, hat sich in seinen preisgekrönten Dokumentationen immer wieder mit dem Schicksal von Minderheiten in der Türkei befasst. 2009 drehte er "Mordakte Hrant Dink" (gemeinsam mit Simone Sitte), einen Film über den 2007 erschossenen armenischen Intellektuellen und den Umgang des türkischen Staats mit dem Völkermord an den Armeniern. Auch in seinem Vierteiler lässt Okkan Vertreter verschiedener Volksgruppen zu Wort kommen, Armenier, Assyrer, Kurden.

In Diyarbakır trifft Feride Akgün den kurdischen Schrifsteller Şeyhmus Diken, der sie durch die Altstadt führt. "Ich weiß gar nicht, ob diese Straßenzüge noch stehen", kommentiert Okkan diese Szenen, "das wurde ja alles bombardiert." Der Dreh fand statt, bevor die Kämpfe im vergangenen Sommer wieder aufflammten im Südosten. Heute liegen Teile der Altstadt von Diyarbakır in Schutt und Asche. Auch von diesem dunklen Kapitel erzählt Okkans Film.

Die ersten beiden Teile der Doku sendet der WDR am Montag, 30. Mai, um 7.20 Uhr. Am Dienstag, 31. Mai, sind zur gleichen Zeit Folge drei und vier zu sehen.

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