Als die Nachricht am Montag um die Welt kurvte, wird irgendwo Lauren Weisberger gesessen und laut gelacht haben. Die Realität, sie imitiert eben doch die Fiktion.
In ihrem Roman "The Devil wears Prada", 2003 veröffentlicht, ließ Weisberger am Ende den Moment kommen, in dem Miranda Priestly, übermächtige Chefredakteurin des amerikanischen Runway-Magazins, abgesägt werden soll. Sie ist zu alt und zu teuer geworden. Hinter den Kulissen ist alles längst eingefädelt, eine Nachfolgerin gefunden, ein Verkündungstermin anberaumt. Am Vorabend bestellt Priestly den Verleger zu sich. Sie zeigt ihm eine Liste mit den Namen all der Designer, Models, Fotografen, Autoren und Anzeigenkunden, die ihr ergeben sind und Runway den Rücken kehren würden, sollte sie tatsächlich gehen. Und das war das.
Die der Fiktion mit großer Verspätung hinterherhinkende Realität sieht so aus: Anna Wintour ist jetzt 71 Jahre alt und seit 1988 Chefredakteurin der amerikanischen Vogue. Der Mutterverlag Condé Nast macht seit Jahren Verluste, weil das Anzeigengeschäft wegbricht und die Digitalisierung verpasst wurde. Zuletzt hatte die US- Vogue noch eine höchst öffentliche Debatte über toxische Unternehmenskultur und Rassismus an der Hacke.
Wintour wacht nun über den Inhalt fast aller großen Condé-Nast-Titel
Vor diesem Hintergrund sollte es nicht verwundern, dass Wintour lange Zeit eine Chefredakteurin auf Abruf zu sein schien. Stattdessen wurde sie 2013 in die Position des Artistic Directors sowie 2019 zum Global Content Adviser des Gesamtverlags befördert. Und am Montag hat sie noch zwei Ämter dazubekommen: Wintour wacht nun auch über den Inhalt aller großen Condé-Nast-Titel mit der einzigen Ausnahme des New Yorker. Sie hat außerdem das letzte Wort bei der Gestaltung aller 22 nationalen Ausgaben der Vogue. Fazit: Sollte Wintour zuletzt einfach mächtig gewesen sein, so ist sie jetzt allmächtig.
Die Personalie ist Teil einer größeren Umstrukturierung. Und wenn man sich bei Condé Nast auch große Mühe gibt, die Maßnahmen mit viel Zukunfts-Vokabular hübsch einzukleiden - Wintour trägt fortan die Titel Worldwide Chief Content Officer und Global Editorial Director - so sind es doch für jedermann erkennbar: Sparmaßnahmen. Nur noch eine Chefredakteurin (Wintours Vertraute Amy Ashley) für alle Ausgaben von AD, nur noch ein Chefredakteur (Will Welch) für alle Ausgaben von GQ. Simone Marchetti macht nun nicht nur die italienische Vanity Fair, sondern auch die französische und spanische.
Über die europäischen Vogues wacht in Zukunft, quasi als Sous-Chef unter Wintour, der Ghanaer Edward Enninful. Das ist die einzige klar zukunftsweisende Personalie. Enninful wurde vor drei Jahren erster schwarzer Chefredakteur der britischen Vogue und hat seither vorgeführt, wie divers, engagiert und aktuell der etwas abgestandene Titel auch heute noch sein kann - durchaus im Unterschied zur US-Ausgabe. Für Deutschland bedeutet das: Enninful übernimmt das Amt von Christiane Arp, die vergangene Woche nach 17 Jahren ging, irgendwie mit. Wie das gehen soll und, überspitzt, ob es die nationalen Vogues nicht ihre Identität kostet, wenn sie in Zukunft von New York aus gesteuert werden, man wird es erleben.