Als am 6. Januar das Kapitol in Washington gestürmt wurde, waren Dutzende Journalisten dabei. Sie filmten, fotografierten, hörten, spürten, rochen den Hass und berichteten teils live darüber. Dennoch entging ihnen ein Großteil des Geschehens. Sie sahen nur von Ferne, wie die Randalierer einen Polizisten mit Hockeyschlägern prügelten. Sie bemerkten nicht, wie eine Trump-Anhängerin zu Tode getrampelt wurde. Ihnen fiel vielleicht eine Gruppe in Camouflage auf, die sich durch die Menge schob, doch sie verloren sie aus den Augen.
Die Attacke auf den Polizisten, der Tod von Boyland und die Aktionen der "Oath Keepers", einer ultrarechten Miliz, sind nur einige Nebenereignisse, die die New York Times und die Washington Post seitdem aufgedeckt haben. Sie stützten sich dabei vor allem auf Fotos und Videos aus den sozialen Medien, die meisten aufgenommen von den Gewalttätern selbst. Die Journalisten mussten sie nur aus dem Netz fischen, auswerten und kombinieren wie Teile eines Puzzles, zu dem die Vorlage fehlt.
Schon ein einziges Handyvideo enthält einen Schatz von Informationen
Dieses Verfahren, Visual Investigation oder Open Source Investigation genannt, etabliert sich gerade als neue Methode des Journalismus. Die Times hat ihr Visual-Investigations-Team schon 2017 gegründet. Die 18-köpfige Abteilung hat sich seitdem mit Dutzenden Fällen beschäftigt, von einem Giftgasangriff in Syrien über die Explosion im Hafen von Beirut bis hin zum Tod von Breonna Taylor, die in Louisville, Kentucky, von Polizisten in ihrer Wohnung erschossen wurde. Auch die Post hat inzwischen eine eigene Abteilung. In Deutschland veröffentlicht vor allem der Spiegel solche Recherchen, wenn auch nicht aus dem eigenen Haus, sondern von Forschergruppen wie Forensic Architecture oder Recherchenetzwerken wie Bellingcat.
Möglich geworden ist diese Form der Recherche erst, seit fast jedes Ereignis gefilmt und im Netz geteilt wird, ob es das Massaker von Las Vegas ist oder das Sinken eines Flüchtlingsboots im Mittelmeer. "Die Frontex-Leute filmen, die Flüchtlinge filmen, die Leute von den NGOs auf ihren Jet-Skis filmen auch", sagt Eyal Weizman, Gründer von Forensic Architecture und einer der Pioniere des Genres.
Bilder dienen hier nicht mehr als Beleg und zur Veranschaulichung, sie sind Speicher von Daten, die entziffert und zum Sprechen gebracht werden. Schon ein einziges Handyvideo enthält einen Schatz von Informationen - außer den Bildern oft den Namen des Filmenden, die Zeit und den Ort. Doch eines ist erst der Anfang, so Weizman: "Wenn du zwei Videos kombinierst, hast du ein machtvolles Statement. Wenn du sechs kombinierst, hast du eine potenzielle Explosion." Gleicht man die visuellen Information wiederum mit weiteren Datenquellen ab - Satellitenbildern von Google Earth zum Beispiel - entsteht ein Faktengewebe, das um ein Vielfaches dichter, vor allem aber unangreifbarer und überzeugender ist als das meiste, was man im Journalismus bisher kannte.
Was herauskommt, sind keine Geschichten, sondern Analyseergebnisse
Weizman, der eigentlich Architekt ist, suchte nach Verfahren, um im Auftrag von Menschenrechtsorganisationen, NGOs und Aktivistengruppen Verbrechen von Polizei und Militär aufzudecken. Er fand sie in den Methoden der Forensik, auf die bislang der Staat das Monopol hatte. Nur untersucht Weizman mit seiner Gruppe Forensic Architecture nicht Leichen, Fingerabdrücke oder Tatwaffen, sondern eben alles, was das Netz an Spuren liefert. Und nicht Richter will er überzeugen, sondern die Öffentlichkeit. Bis heute hält er an seinem Prinzip der "Gegenforensik" fest, er arbeitet ausschließlich für Opfer von Militär, Polizei und mächtigen Konzernen.
Die Forensik-Teams von Times und Post sind da offener, obwohl auch sie sich sehr oft mit Polizeigewalt oder Menschenrechtsverletzungen beschäftigen, so Malachy Browne, Chef der Times-Abteilung. Und auch ästhetisch gibt es kaum Unterschiede zwischen den Videos der Künstler und Wissenschaftler von Forensic Architecture, die sogar auf der letzten Documenta vertreten waren, und denen der Times, die von einem Millionenpublikum gesehen werden. Auch dort wird die "Gegenforensik" als eine Art Gegenjournalismus praktiziert. Die kurzen Filme mit ihren Split-Screen-Montagen und Grafik-Animationen wirken wie Laborbefunde. Sie kommen ohne Pathos-Soundtrack, ohne Gefühligkeit und andere Geschmacksverstärker des Doku-Erzählens aus. Es sind keine "Geschichten", sondern Analyseergebnisse.
Was ihnen an Gefälligkeit abgeht, machen sie allerdings wett durch die Dramatik der gezeigten Szenen, durch Authentizität und detektivische Raffinesse.
Am Anfang geht es oft darum, die Videos zeitlich zu verlinken. Schüsse oder Rauchwolken helfen dabei. Dann wird aus zweidimensionalen Bildern ein Raum rekonstruiert. Bei den Videos aus dem Kapitol war das leicht, dank der im Hintergrund sichtbaren Treppen, Statuen und Mosaiken. Schwieriger war es, als die Times-Journalisten den Abschuss eines ukrainischen Flugzeugs über Iran im Januar 2020 erforschten. Sie behalfen sich mit einem Wasserturm, der in mehreren Quellen auftauchte. Sie suchten ihn bei Google Earth am ungefähren Ort des Absturzes. Den wiederum hatte ihnen Flightradar 24 geliefert.
Es gibt unzählige weitere Hilfsmittel. Die Website Suncalc zeigt den Sonnenstand an jedem Punkt der Erde zu jeder Uhrzeit an - so lässt sich der Fall von Schatten interpretieren. Auf der Nasa-Website Worldview lässt sich das Wetter in den letzten 20 Jahren recherchieren, aber auch Vulkanausbrüche und die Flugrouten von Heuschreckenschwärmen.
Öltanker auf dem Weg nach Nordkorea - sieht man auf Satellitenbildern
Christoph Koettl, der im Times-Team auf Satellitenbilder spezialisiert ist, hat noch mehr Tipps: Nach den neuesten Bildern aus dem All sucht er jeden Morgen bei Imagehunter. Auch Sentinelhub, das Bilder der European Space Station zeigt, gehört zu seinen Tools. Die Fotos sind nicht hoch aufgelöst, aber für seine derzeitige Recherche genügt es: Er sucht nach Öltankern, die - unter Verletzung der Sanktionen - auf dem Weg nach Nordkorea sind oder von Iran und Venezuela kommen. Earth Data wiederum liefert aktuelle Koordinaten von großen Bränden, oft Zeichen von Gewalt und Zerstörung. Auf diese Weise konnte er verfolgen, wie in Darfur und Myanmar Dörfer niedergebrannt werden.
Der Begriff "Visual Investigations" ist missverständlich. Die Analytiker benutzen neben Bildern auch alle anderen Informationen, die sie finden können, ob es geleakte Anruflisten von Rettungsleitstellen im Westjordanland sind oder Funksprüche russischer Bomberpiloten. Und sie ziehen Spezialisten aller Art zu Rate. Immer jedoch geschieht die Beweisführung über Bilder. Gibt es keine, werden sie rekonstruiert. Um nachzuweisen, was so katastrophal schiefging, als die Polizei Breonna Taylors Wohnung stürmte, konstruierten die Forscher ein 3-D-Modell des Hauses, in dem sie mit Hilfe von Ballistikexperten den Flug jeder einzelnen der 32 abgegebenen Kugeln nachzeichneten.
Ihren Kollegen bei Polizei und Justiz sind sie inzwischen oft überlegen
Für ihre Untersuchung des NSU-Mordes an Halit Yozgat in einem Internetcafé in Kassel simulierten die Forscher von Forensic Architecture am Bildschirm sogar, wie sich das Geräusch des Schusses und der Pulvergeruch im Raum ausbreiteten. So wiesen sie nach, dass der V-Mann Andreas Temme, der im Hinterzimmer des Ladens saß, entgegen seiner Aussage den Schuss gehört und den Geruch bemerkt haben muss.
So avanciert sind die Verfahren der "Gegenforensiker", dass sie denen ihrer Kollegen bei Polizei und Justiz inzwischen oft überlegen sind, sagt jedenfalls Malachy Browne: "Die wenigsten staatlichen Stellen haben die Möglichkeiten, das zu tun, was Forensic Architecture oder wir machen. Sie haben aber Zugang zu viel mehr Informationen." Oft tragen die Untersuchungen denn auch dazu bei, dass Verfahren neu aufgerollt werden, so im Fall von Breonna Taylor. In anderen Fällen werden die Analysen aller Evidenz zum Trotz ignoriert. Die syrische Regierung leugnete die Giftgasattacken, obwohl sich die eigenen Soldaten ihrer im Netz rühmten; das Münchner Gericht zog das NSU-Video nicht als Beweismittel heran.
Dennoch sind die Zeiten vorbei, da die Arbeiten von Forensic Architecture vor allem von Kunstfreunden und Aktivisten geschätzt wurden. Weizman ist Berater des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. Im Mai startet in Berlin seine Investigativ-Agentur Forensis.
Bleibt die Frage, was Menschen wie die Trump-Fans im Kapitol dazu bewegt, selbst das Beweismaterial zu produzieren, das sie später ins Gefängnis bringt. Weizman wundert sich darüber nicht mehr. "Schon seit Langem filmen Verbrecher ihre Taten und verbreiten die Bilder", sagt er. "In Abu Ghraib, in Russland, in Israel, in Kamerun." Manchmal ist das eine Überlegenheitsgeste, wie bei den syrischen Soldaten: "Es heißt: Fuck you, ich kann mein Verbrechen filmen, und ihr könnt nichts gegen mich tun." In anderen Fällen ist das Video der eigentliche Zweck. "Wer in Nancy Pelosis Büro einbricht, tut das nur, um es zu filmen. Es gibt sonst keinen Grund dafür."