Wenn es so etwas gibt wie ein traditionsreiches Start-up, dann ist es das, was seit einigen Monaten in der Bräunerstraße 11 in der Wiener Innenstadt entsteht. In einem schmucklos-modern eingerichteten Büro im ersten Stock eines alten Palais entwerfen ein paar Menschen um die 30 im Auftrag eines alten ein neues Medium: den Österreich-Ableger der angesehenen Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).
Mit ihren 235 Jahren ist die NZZ eine der ältesten noch existierenden Zeitungen im deutschen Sprachraum - "alte Tante" wird sie auch genannt. An diesem Mittwoch soll die Wiener Nachrichtenseite online gehen.
Bei dem Experiment geht es aber nicht nur um den österreichischen Markt. Es ist vor allem auch ein Test für einen viel bedeutenderen Schritt, den die NZZ innerhalb der kommenden Jahre wagen will: den zum großen Nachbarn Deutschland.
Veit Dengler, der neue Chef der NZZ-Gruppe, hatte das Projekt vor einem Jahr angekündigt. Dengler ist Österreicher und war in seiner Heimat zuletzt als Mitbegründer der liberalen Partei Neos aufgefallen, die es 2013 aus dem Stand ins Parlament schaffte.
Nun will er seine dezidiert liberale Zeitung in seine Heimat holen. Das Besondere an der NZZ Österreich: Es wird sie nur online geben, und die Seite wird von Anfang an eine Paywall haben. Eine ziemlich hohe sogar: 14 Euro pro Monat werden fällig.
Nur drei Rubriken
Seit November gibt es eine Beta-Version von nzz.at, die einigen Hundert Testern erste Einblicke erlaubt. Statt einer klassischen Ressort-Einteilung hat die Seite drei Rubriken namens "Nachrichten", "Phänomene" und "Club". Unter "Phänomene" finden sich jeweils mehrere Beiträge zu einem Überthema, derzeit etwa zu "Eurosklerose", "Jung und Alt" oder "Total besteuert".
Im "Club" gibt es Kommentare der Redakteure und die Möglichkeit, in einer Art Forum mitzudiskutieren. Der Club erstreckt sich auch in die Offline-Welt: Jeden Montag findet in der Eingangshalle der Redaktion der "Clubabend" statt, eine Podiumsdiskussion für Abonnenten. Bei den ersten Terminen war der Raum mit dem Glasdach und dem großen nzz.at-Schriftzug mit mehreren Dutzend Zuschauern gut gefüllt.
In einem schlichten Büro neben dieser Halle - weiße Wände, dunkle Möbel, Glastür - sitzt nun nzz.at-Chefredakteur Michael Fleischhacker und erklärt, wie er Menschen dazu bringen will, 14 Euro monatlich für ein Online-Medium zu zahlen. Für ein neues noch dazu, das von nur 15 Redakteuren gemacht wird (zum Vergleich: einen unbeschränkten Zugang zur Seite der New York Times, die etwa 1300 Redakteure hat, gibt es ab elf Euro im Monat).
Viele Tageszeitungen und Online-Medien böten ein "halbnervöses Nachrichtengrundrauschen", nzz.at hingegen eine "Kombination aus Echtzeit- und Magazin-Feeling", sagt Fleischhacker, ehemals Chefredakteur der konservativen Tageszeitung Die Presse und in der österreichischen Medienwelt berühmt für seine Lust an der Provokation.
Thematisch soll sich die Redaktion auf österreichische Politik und Wirtschaft beschränken und dafür in diesen Bereichen in die Tiefe gehen. Internationale Inhalte kann nzz.at vom Schweizer Mutterblatt übernehmen. Und: nzz.at soll mehr mit Video und Datenvisualisierung arbeiten als die Web-Auftritte der Tageszeitungen. "Was in anderen Redaktionen die multimediale Kür ist, ist bei uns die Pflicht", sagt Fleischhacker.
Seine Einstellungspolitik spiegelt das. Keiner der nzz.at-Redakteure ist über 40, die meisten kommen von vielfach preisgekrönten österreichischen Medien-Start-ups der vergangenen Jahre: Vom Monatsmagazin Datum, vom Online-Projekt Paroli, von der Daten- und Investigativ-Plattform Dossier. "Wir haben keine etablierten 50-jährigen Printjournalisten gesucht. So einen wie mich hätte ich wahrscheinlich nicht eingestellt", sagt der selbst auch erst 45 Jahre alte Chefredakteur Fleischhacker.
Die NZZ ist nicht das erste Medium im deutschsprachigen Raum, das den Schritt über die eigenen Landesgrenzen wagt. Der Spiegel, der je etwa zwei Prozent seiner Hefte in Österreich und in der Schweiz verkauft, erscheint gelegentlich mit eigenen Titelseiten für diese Länder. 2007 versuchte er sich an einer Schweiz-Ausgabe. Es blieb bei einem Testlauf, doch dem neuen Chefredakteur Klaus Brinkbäumer zufolge arbeitet man derzeit "an Strategien für Österreich und die Schweiz".
Die Zeit produziert seit 2005 für Österreich und seit 2008 auch für die Schweiz eine eigene Ausgabe. Darin werden die letzten drei Seiten des Politikteils durch länderspezifische Seiten ersetzt, produziert von kleinen Teams in den jeweiligen Ländern.
Viele Ideen für Deutschland
In der Schweiz sei die Zahl der Leser seit Einführung dieses Teils um die Hälfte gestiegen, sagt Patrik Schwarz, der für die Regionalausgaben verantwortlich ist. In Österreich sei sie gar von 10 000 auf 20 000 angewachsen. Das entspricht etwa vier Prozent der gesamten verkauften Auflage.
Diese Erfahrungen seien ausschlaggebend gewesen für die Einführung der Zeit im Osten, die seit 2012 nach dem selben Prinzip erscheint, und des vor kurzem gestarteten Hamburg-Teils. "Gerade in der Printkrise lohnt es sich auch für nationale Medien, auf die Leser im regionalen Umfeld zuzugehen", sagt Schwarz.
So ähnlich sieht das wohl auch NZZ-Chef Dengler. Hört man ihm zu, bleiben kaum Zweifel, dass die vorerst für zwei Jahre vorfinanzierte Webseite vor allem auch ein Versuchslabor für einen künftigen Deutschland-Ableger ist. "Deutschland ist ein ganz anderer Markt mit viel mehr Konkurrenz, da wäre es naiv, einfach dasselbe Produkt auf die zehnfache Größe zu skalieren", sagt nzz.at-Chefredakteur Fleischhacker - aber natürlich würden die Erfahrungen mit nzz.at ins deutsche Projekt einfließen.
Spätestens 2016 sollen die Pläne konkreter werden. Online oder Print, Neugründung oder Kooperation mit einem bestehenden Medium: Dengler kann sich für Deutschland vieles vorstellen.