Verbrechen in Virginia im Live-TV:Ein Mord, übertragen an die ganze Welt

Der Doppel-Mord von Virginia, übertragen im Live-TV, ist ein singuläres Ereignis - noch. Die grausame Inszenierung des Verbrechens bleibt nicht folgenlos.

Von Sebastian Gierke

Tödliche Schießerei in den USA. Klingt dieser Satz für Sie vollständig? Oder haben Sie, sehr geehrter Leser, das Gefühl, dass hier etwas fehlt? Müsste es nicht eigentlich heißen: Schon wieder eine tödliche Schießerei in den USA. Das wäre doch angemessener, oder? Passiert ja ständig.

Wir haben uns lange schon daran gewöhnt, auch im Fernsehen mit dem Tod konfrontiert zu werden. Doch solche Schocks, die die Medien mit ikonografischer Verdichtung ins Bild setzen, nicht immer, aber oft ins Bild setzen müssen, der 11. September 2001 als alle Dimensionen sprengendes Beispiel, werden durch die unablässige Wiederholung entschärft. Die serielle Gleichförmigkeit des Schreckens betäubt den Schrecken.

Und dann, gestern, Mittwoch, 26. August 2015: Tödliche Schießerei im Live-Fernsehen. Täter veröffentlicht selbstgedrehten Film des Verbrechens im Internet. Zwei Menschen tot.

Passiert nicht ständig. Ist noch nie passiert. Und jetzt?

Wir werden mit dieser einen Tat konfrontiert. Die singulär ist. Weil sie singulär ist, werden wir mit ihr konfrontiert. Weil sie nicht unter "schon wieder" fällt.

Er zögert kurz

USA, Virginia. Wie in einem Computerspiel, aus der Ich-Perspektive gefilmt, die Pistole in der einen Hand, die Kamera in der anderen. Beides auf die Reporterin gerichtet. Nur ein, zwei Meter von ihr entfernt. Er zögert kurz. Dann die Schüsse.

Und nur wenige Minuten später die Explosion. Im Internet, in den sozialen Netzwerken. Der Tod wird jetzt übermittelt an die Welt. Ein viraler Kontrollverlust.

Der Schütze, selbst Journalist, hat seine Tat - sehr gekonnt, sehr professionell - optimiert auf möglichst weite Verbreitung. Er kannte die Funktionsweise der sozialen Medien. Er hat sie ausgenutzt für seine Zwecke. Das Video wurde über den Account des Täters getwittert noch während er von der Polizei verfolgt wurde. Er wollte die Aufmerksamkeit. Er hat sich zum Regisseur unserer Erwartungen gemacht und für sein menschenverachtendes Stück die größtmögliche Bühne gesucht. Und gefunden.

Unfassbare Grausamkeit mit unvorstellbarer Reichweite

Tausende Menschen haben ihm auf dieser Bühne, diesem grausamen Ort der Exposition, zugesehen. Sie haben das Video und die Bilder geteilt. Es ist heute unfassbar einfach, suggestiven Dreck zu verbreiten. Oder unfassbare Grausamkeit. Mit bis vor wenigen Jahren unvorstellbarer Reichweite.

Facebook und Twitter lassen das zu. Sie haben die Accounts des Täters zwar gesperrt, allerdings nicht schnell genug. Das ist ein gewaltiges Problem, das Prinzip der Netzwerke wird dadurch aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Es sind nicht per se asoziale Netzwerke, auch wenn die Inszenierung von Verbrechen heute erschreckend einfach ist.

Für unsere Wahrnehmung spielt dieser Mechanismus allerdings eine entscheidende Rolle. Die Vielstimmigkeit, das Geschrei, die Informationsexplosion auf allen medialen Kanälen: durchzublicken, zu filtern, zu bewerten ist unfassbar schwierig.

Je mehr Informationen, desto näher kommt man einer Sache? Stimmt dieser so schlichte Zusammenhang in solchen Fällen noch? Ist es nicht vielmehr so: Wenn man alles wissen will, wenn man ganz nahe ran geht, so nahe wie es nur irgend geht, alle Quellen anzapft, dann steht am Ende oft nur ein großes Pixel, ein Nichts. Wie bei einem Foto, an das man ganz nahe heranzoomt.

Anziehungskraft des Horrors

Gestern wurde der Täter von einigen Stellen für tot erklärt. Dann hieß es, er atmet. Dann hieß es, er ist im Krankenhaus. Wenige Minuten später ist er dort gestorben. Tot, lebendig, tot. Wer weiß was wann woher?

In solchen Fragen manifestiert sich der Horror einer von Rissen durchzogenen Wirklichkeit. Auf die Anziehungskraft dieses Horrors setzen die Täter. Auf die Faszination, die davon ausgeht und die sich in den Tausenden Beiträgen widerspiegelt. Die Resonanz des Publikums kann zu einer toxischen Eitelkeitsempfindung führen.

An diesem Punkt allerdings wird es extrem gefährlich. Denn auf dieser Bühne wird das Böse zu einer ästhetischen Kategorie. Und genau deshalb werden weitere Menschen diese Bühne suchen und finden. Und es besteht die Gefahr, dass wir den Satz "Täter veröffentlicht selbstgedrehtes Video des Verbrechens" irgendwann wie selbstverständlich mit einem "schon wieder" versehen.

Doch das Böse ist keine ästhetische Kategorie, sondern eine ethische.

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