Süddeutsche Zeitung

US-Wahl:Big Brother for President

Die Werbung für Trump und Biden im Internet verschlingt Milliarden von Dollar. Doch weil die Ansprache immer gezielter wird, geht es längst nicht mehr um Programme für die Massen. Es geht um das gezielte Ausspähen jedes einzelnen Wählerprofils.

Von Michael Moorstedt

Es ist so weit, man darf sich an die späten Nullerjahre nun als die "guten alten Zeiten" erinnern, als die Welt noch ein bisschen leichter durchschaubar erschien und noch nicht ganz so unrund rotierte. Das gilt selbst für ein solch gewichtiges Ereignis wie die Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten. Zur Erinnerung: 2008 wurde Barack Obama nicht nur wegen seiner Ideen für Amerika als Visionär gefeiert, als jemand, der die Zeichen der Zeit richtig deutet und die Zukunft dechiffriert. Sondern auch für seinen Umgang mit dem Internet. Der Kandidat startete als Teil seiner Wahlkampagne sogar ein eigenes soziales Netzwerk. Auf my.barackobama.com konnten sich Wähler und Unterstützer untereinander vernetzen, Veranstaltungen planen oder sich als Wahlhelfer registrieren. Endlich fühlte sich auch der normale Wähler mit seinen Sorgen und Nöten wieder ernst genommen und angesprochen. Obamas Kampagne hole die Menschen zurück in den politischen Prozess, hieß es über diese Art von Wahlkampf von den Massen für die Massen.

Was damals als revolutionär galt, wirkt im Rückblick rührend niederschwellig. Knapp acht Millionen Dollar gab Obama im gesamten Verlauf der Kampagne für Werbung im Internet aus, etwa 500 000 davon gingen an Facebook. Heutzutage investieren die Kandidaten locker das Zehnfache - innerhalb einer einzigen Woche. Elf Milliarden Dollar wird ihre Kandidatur Joe Biden und Donald Trump insgesamt kosten, so Schätzungen, und ein immer größerer Teil wird in digitale Wahlwerbung investiert. In den letzten Wochen vor der Wahl schalteten die Kampagnen so viele Anzeigen, dass selbst im vermeintlich grenzenlosen Internet der Platz knapp wurde, wie das Magazin Bloomberg berichtete.

Doch im Laufe der Zeit hat sich nicht nur das Ausmaß der Investitionen geändert, sondern auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Privatsphäre. Spätestens seit dem Skandal um das Datenanalyse-Unternehmen Cambridge Analytica im Jahr 2016 ist klar geworden, dass die ungehemmte Digitalisierung der politischen Kommunikation nicht nur Teilhabe ermöglicht, sondern dieselbe Unwucht in das Machtgefüge zwischen Absender und Adressat bringt, die auch in der Privatwirtschaft herrscht. Wahlwerbung ist in den USA kaum reglementiert. So steht den Kampagnen ein großes Arsenal von moralisch fragwürdigen Werbetechniken zur Verfügung, die nur noch bedingt mit Demokratie zu tun haben, seien es gezielte Werbung, Big-Data-Wähleranalysen oder übergriffige Apps.

Dabei obliegt es den Tech-Unternehmen selbst zu entscheiden, was sie in ihren Domänen zulassen und was nicht. Google erlaubt beispielsweise keine zielgerichtete Werbung auf seinen Seiten, das sogenannte Microtargeting, und Twitter sorgte mit der Ankündigung für Aufregung, Wahlwerbung auf seiner Plattform gänzlich zu unterbinden. So bleibt Facebook als wichtigstes Schlachtfeld übrig, auch wenn das Netzwerk gerade unter jungen Menschen immer weiter an Relevanz verliert.

Werben auf Facebook hat jedoch längst nichts mehr mit den guten alten Zeiten zu tun, in denen Wahlkampfmanager aus sämtlichen zur Verfügung stehenden Kanälen wie Print, Plakatwand oder TV ein Menü zusammenstellten. Wie jedem anderen Werbetreibenden stellt Facebook auch den Präsidentschaftskandidaten ein komplett automatisiertes System zur Verfügung. Sie kommunizieren also nicht mehr mit Menschen, die sie von ihrer Botschaft überzeugen wollen, sondern stattdessen nur noch mit der Software, die Facebooks Werbemaschinerie antreibt. Wer aus welchen Gründen welche Anzeige zu sehen bekommt, ist kaum noch zu durchschauen.

Eine digitale Kampagne ist dementsprechend nur so viel wert wie die Daten, die ihr zur Verfügung stehen. In der amerikanischen Politik herrscht längst dieselbe Big-Data-Gläubigkeit, die auch in der Privatwirtschaft grassiert. Man muss, so die Annahme, nur genügend Informationen sammeln, um genau zu wissen, welchen Wähler man in welcher Situation mit welcher Botschaft ansprechen sollte. Dabei wird nicht mehr nur nach simplen soziodemografischen Merkmalen wie Geschlecht, Wohnort oder Alterskohorte sortiert, sondern nach Interessen und Lebensmodellen, die in ihrem Detailgrad beinahe obsessiv wirken. Ein alleinstehender Mann, der selbständig und Waffenbesitzer ist, bekommt andere Botschaften zu sehen als liberale Paare in den Vorstädten.

Damit die differenzierte Kommunikation funktioniert, unterhalten die Partien große Datensilos, die einen reibungslosen Austausch der einzelnen Kampagnen und Kandidaten ermöglichen. Bei "Data Trust", der Datenbank der Republikaner, heißt es etwa, das "exklusive Dateninventar besteht aus einer tiefgreifenden Datensammlung von mehr als 300 Millionen Menschen, mit bis zu 2500 Datenpunkten für jeden einzelnen". Die Republikaner nutzen ihre Datenbank bereits seit sieben Jahren. Die Konkurrenz von den Demokraten hat ihre eigene Version, die sogenannte "Democratic Data Exchange", erst im Laufe des jetzigen Rennens gestartet. Und das, obwohl Hillary Clinton 2017 auch die mangelnde Datenausstattung für ihre Niederlage mitverantwortlich machte.

Um den Datenhunger zu stillen, sind auch persönliche Kampagnen-Apps der beiden Kandidaten längst nicht mehr nur Mittel zur Partizipation. In den umfangreichen Berechtigungen, die Nutzer auf ihren Smartphones gewähren müssen, gleichen sie eher Schadsoftware. Joe Bidens App namens "Vote Joe" verlangt beispielsweise erst mal Zugriff auf die Kontakte im Telefon, gleicht diese Informationen mit bundesweiten Wählerdateien ab und filtert so Freunde und Bekannte nach politischer Orientierung und vergangenen Wahlentscheidungen.

"Relational Organizing" heißt der entsprechende Fachbegriff. Für deutsche Verhältnisse ist das schon reichlich invasiv, aber noch längst nicht High-End. Der Unterschied zwischen der Biden-App und dem Trump-Produkt ähnelt dem zwischen einem gebrauchten Pick-up-Truck und einem Ferrari, prahlt dann auch Alan Knitowski, dessen Unternehmen Phunware Trumps App entwickelt hat. Die verlangt unter anderem auch Zugriff auf Bluetooth-Funkverbindungen und GPS-Signal. "Sie wollen wissen, ob man Sonntag in die Kirche geht oder auf den Schießstand oder zur Abtreibungsklinik. Und wenn sie diese Informationen haben, können sie das mit anderen Datenpunkten verbinden, um den Wähler mit personalisierter Werbung zu erreichen", erklärt Sam Woolley, Professor für Propagandaforschung an der Universität von Texas.

Von einem vermeintlichen Mittel zum politischen Engagement wird das Programm zur einem hocheffizienten Wählerüberwachungswerkzeug. Zum Einsatz kommen sämtliche Muster, mit denen auch die Privatwirtschaft versucht, ihre Angestellten und Konsumenten zu disziplinieren. Dazu gehört auch das Prinzip der Gamification: Wer seine Bekannten überzeugt, sich die Trump-App ebenfalls herunterzuladen, oder wer Telefondienst für die Kampagne leistet, bekommt Punkte gutgeschrieben. Haben sie einen gewissen Zwischenstand erreicht, bekommen App-Nutzer etwa einen Nachlass auf Fanartikel von Donald Trump mit dem "Make America Great Again"- Slogan.

Neben der Datenobsession werden heutzutage auch Influencer, die sonst eher Konsumgüter auf ihren Instagram-Kanälen anpreisen, eingesetzt, um Botschaften unters Volk zu bringen. Joe Biden lässt sich immer wieder von wohlgesinnten Promi-Nutzern interviewen, und Donald Trump hat ohnehin einen ganzen Chor an ultrakonservativen Multiplikatoren, der seine Tiraden nachbetet. Der Einsatz von nicht gerade subtilen Social-Media-Persönlichkeiten ist zwar nicht sonderlich elegant, aber wohl trotzdem ein unvermeidbarer Weg, um Zielgruppen anzusprechen, die mit Politik sonst kaum noch in Berührung kommen.

Eine Komponente fehlt freilich noch. Denn auch die Wahlumfragen sind vom technischen Wandel nicht ausgenommen. Donald Trumps Erfolg 2016 hat schließlich nicht nur den Glauben an den gesunden Menschenverstand im Allgemeinen, sondern auch den von Wahlforschern und Demoskopen an ihre Erhebungen erschüttert. Herkömmlichen Befragungen macht unter anderem das Phänomen der sozialen Erwünschtheit zu schaffen. Das bedeutet, dass Menschen zwar Populisten wählen, dies aber nur ungern zugeben und den Wahlforschern aus Scham eine falsche Antwort geben.

Hoffnung macht Polly, ein KI-Programm des kanadischen Start-ups Advanced Symbolics. Die Software umgeht dieses Problem, indem sie eine ungleich größere und trotzdem repräsentative Stichprobe in den sozialen Medien auswertet und mit eigenen Vorhersagemodellen abgleicht. Entgegen der Meinung sämtlicher menschlicher Experten sah Polly auch Trumps Sieg vor vier Jahren voraus. Seitdem hat das Programm mehr als 20 Wahlen weltweit korrekt vorhergesagt. Darunter auch eher unwahrscheinliche Entscheidungen wie etwa den Brexit oder eine Minderheitsregierung in Kanada. Auch jetzt ist die KI sich ziemlich sicher: Eine Woche vor dem Stichtag prognostiziert sie einen Biden-Sieg mit 353 zu 185 Wahlleuten.

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