US-Serie "Vinyl":Wenn Martin Scorsese und Mick Jagger gemeinsam eine Serie machen

HBO Serie "Vinyl"

Es gibt in dieser Serie viele Figuren, Requisiten und Rituale. Nur die Handlung aus Mord und Liebe und der Spannungsbogen bauen sich sehr langsam auf.

(Foto: 2014 HBO)

"Vinyl" zeigt den Rock 'n' Roll der 70er: Sex, Drugs, Liebe, Mord. Damit kennen sich die prominenten Macher aus. Mit dem modernen Serienformat dafür nicht so gut.

TV-Kritik von Andrian Kreye

Als vor sechs Monaten der erste Trailer für die neue HBO-Serie Vinyl in Umlauf kam, war innerhalb von sechzig atemberaubend geschnittenen Sekunden alles klar: Rock, Sex, Koks, Gewalt, E-Gitarren, Langspielplatten, Siebzigerjahre-New-York, die Namen Martin Scorsese und Mick Jagger in riesigen serifenlosen Lettern und dazu ein wenig Publikumsbeschimpfung in diesem italoamerikanischen Akzent, der im Film immer nur eines heißen kann: Ärger!

Man sollte wohl noch erwähnen, dass der Showrunner der Gangsterserie Boardwalk Empire Terence Winter diesen ganzen Wahnsinn zusammenhalten wird. Wenn man dann aus der Vogelperspektive der letzten Trailereinstellung sah, wie sich Hauptdarsteller Bobby Cannavale nach einer etwas zu großen Prise Koks schwer aufatmend über die Fahrersitzlehne seines Benz zurücklehnt, war man in genau dieser Stimmung. Geil. Mehr. Weiter.

Nun kommt nach einer ganzen Reihe solcher Trailer die zweistündige Pilotfolge ins Fernsehen. Martin Scorsese hat Regie geführt, Mick Jagger produziert.

Musikgeschichte Mitte der 70er

Die Geschichte handelt vom Plattenboss Richie Finestra, der 1973 versucht, sein Label "American Century" an einen Haufen deutscher Konzernschranzen zu verkaufen. Das läuft von Anfang an nicht rund. Da gibt es Ärger mit einem mächtigen Radio-Discjockey, mit störrischen Superstars und ausgebrannten Talentscouts. Es gibt aber vor allem ein Problem mit der Musik.

Pophistorisch war die Zeit auch im wirklichen Leben hochspannend. Die Rockmusik hatte sich in Bombast, Größenwahn und Langeweile verrannt.

Punk und Hip-Hop waren exotische Untergrundphänomene, die in den Ruinen des verrottenden Molochs New York ein neues Höchstmaß an kultureller Energie produzierten. Davon wussten allerdings nur ein paar wenige Eingeborene der Glasscherbenviertel South Bronx und Lower East Side. Die Plattenindustrie stand da erst einmal auf dem Schlauch.

"Vinyl" passt zum aktuellen Trend

Diese zweite große Zeit der Popkultur wird seit einiger Zeit mit Blondie-Bildbänden, Sex Pistols-Ausgaben im Luxusschuber und Kostümfilmen über die Frühzeiten des Hip-Hop historisiert.

Scorsese und Jagger kennen sich aber nicht erst seit der gemeinsamen Arbeit am Rolling Stones-Tourfilm Shine A Light vor zehn Jahren. Sie waren beide Vertreter der "Classic Rock"-Ära, die in den späten Siebzigerjahren ihr Ende fand, weil Punk und Hip-Hop eben so viel aufregender waren.

Jagger als Pionier der Pose. Scorsese als Fan, der als einer der ersten Hollywoodregisseure Rockmusik als dramatisches Element benutzte. Und der mit The Last Waltz für The Band einen Konzertfilm drehte, der nicht von der Musik, sondern von den Figuren geprägt war.

Fetischisierung von Nostalgie

Sie verstehen deswegen beide viel davon, wie man den Rock 'n' Roll fetischisiert. Und sie haben begriffen, dass das auf Menschen, die mit analoger Popkultur aufgewachsen sind, gerade jetzt besonders euphorisierend wirkt, da sich Pop in Pixel aufgelöst und ins Internet verlagert hat.

Deswegen streift die Kamera auch voller Zärtlichkeit über die Stereoanlagen mit ihren Gehäusen aus gebürstetem Chrom, über die polierten Art-déco-Kurven der E-Gitarren, über Regalreihen voll sorgsam aufgereihter Schallplattenrücken, hinter denen sich die Verheißung schwarz schimmernder Rillenmuster verbirgt.

Männer verhandeln zwischen Sieg und Niederlage

Der Fetisch ist ein archaischer Kunstbegriff, der sich bei Scorsese in der Dialogführung fortsetzt. Die fand auch schon in seinen großen Filmen wie Goodfellas oder Casino vor allem zwischen Männern statt und war meist eine Feier von Unterwerfungsritualen, aus denen immer nur einer als Sieger hervorging und der Verlierer oft als Leiche.

Im Vinyl-Piloten nimmt er sich dafür viel Zeit. Alleine die Szene, in der Finestra und seine beiden Kumpel mit den Deutschen verhandeln ist eine minutenlang ausgedehnte Pointe, in der die rotzigen New Yorker mit der Humorlosigkeit ihrer Verhandlungspartner spielen, die vor allem auf Nazi-Witze sehr verschnupft reagieren.

Nur zwei Frauensprechrollen gibt es in "Vinyl" - auffallend wenige für die neue Serienwelt

Vielleicht sollte man bei der Gelegenheit auch kurz die Frauenrollen betrachten. Da haben die amerikanischen Fernsehserien in Hollywood gehörig viel Bringschuld abgearbeitet. Nicht nur mit Serien über Machtträgerinnen wie Homeland, Madame Secretary und Scandal.

In den Filmen von Scorsese haben Frauen allerdings meist eine von zwei Rollen. Entweder sind sie der moralische Schleppanker oder sie verkörpern das Beuteschema. Das ist auch in Vinyl nicht anders.

Zwei Frauensprechrollen gibt es. Olivia Wilde spielt Finestras Gattin in der Vorort-Villa als wandelnden Vorwurf. Und seine Sekretärin Jamie (Juno Temple) schafft den Weg von der Vorzimmerblondine mit Auftrag zur Beschaffungskriminalität bis zur Talentsucherin mit Gespür für die neuen Subkulturen eben doch nur mit ihrem Unterleib.

Mit dem trifft sie ihre erste musikalische Entscheidung. Die rekrutiert sie dann auch gleich im Bett (Mick Jaggers Sohn James als fiktiver Punksänger, der das schöne, aber unübersetzbare Young, Dumb and Full of Cum-Klischee in Perfektion verkörpert).

Die weibliche Präsenz wirkt aus der Zeit gefallen

Das ist zwar ein netter Seitenhieb gegen die Rocksnobs mit ihrem enzyklopädischen Musikverständnis, aber in der neuen Serienwelt sind normalerweise selbst Gangsterbräute eigenständige Persönlichkeiten (Skyler White in Breaking Bad, Carmela Soprano in Die Sopranos) und nicht bloß hübsche MacGuffins.

Zwischen all den Figuren, Requisiten und Ritualen gibt es auch eine Handlung mit Mord und Liebe und einem Spannungsbogen. Der allerdings wird über die zwei Stunden nur sehr langsam aufgebaut. Das zieht sich.

Technisch gesehen hat Martin Scorsese das Erzählformat einer elfstündigen Serie mit ihren vielschichtigen Strängen und Wendungen nicht genutzt, sondern lediglich einen ganz normalen ersten Kino-Akt bis zum Wendepunkt, der in den zweiten führt, von zehn bis zwanzig Minuten auf zwei Stunden ausgedehnt.

Immer wenn es "wahr" wird, wird es peinlich

Zusätzliche Bremse ist dann die Historisierung tatsächlicher Figuren. Ein Auftritt der New York Dolls und ein Backstage-Besuch bei Led Zeppelin sind so glaubwürdig, wie eine Discoszene in Gute Zeiten, schlechte Zeiten - wenn die Fernsehschauspieler als David Johansen und Robert Plant über die Bühne hopsen, wirkt das wie Karaoke.

Nun sind schon andere an der Historisierung realer Rockstars gescheitert (Oliver Stone an Jim Morrison etwa, Todd Haynes an David Bowie). Zu groß, zu nah sind diese Figuren, als dass man sie nachspielen könnte.

Piloten verlassen das Seriencockpit meistens bald

Und es ist sicher ungerecht, eine neue Serie nach einer Pilotfolge zu beurteilen, die ein Regisseur gedreht hat, der sich längst keine Gedanken mehr über Geld oder Anerkennung machen muss.

Überhaupt sind Piloten bei den meisten neuen US-Serien kein Gradmesser. Die erste Folge von Breaking Bad war ein Abgrund staubgebackener Tristesse, die von Mad Men eine sterbenslangweilige Kostümauslage und an den Brutalo-Patriotismus von Homeland musste man sich auch erst gewöhnen.

Wer weiß, vielleicht nimmt Vinyl ja noch die Fahrt auf, die dem Thema entspricht, werden die Charaktere sympathisch und die Frauen dreidimensional. Vielleicht bleibt es aber auch nur eine Fetischparade für ältere Herren (es wird sogar zu jeder der zehn Folgen ein eigenes Soundtrack-Album erscheinen). Als solcher gesprochen - die werden schon ihre Freude daran haben.

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