US-Nachrichtenportal Politico:Journalismus nach dem Zwiebel-Prinzip

European Union Headquarters

Was läuft bei Gasverträgen, Medikamentenzulassungen, genmodifizierten Lebensmitteln? Politico will EU-Politik transparent machen.

(Foto: Jock Fistick/Bloomberg)
  • Das US-Nachrichtenportal Politico startet seinen europäischen Ableger in Brüssel. Neben einer Homepage wird es wöchentlich eine gedruckte Ausgabe auf Englisch geben.
  • Politico wird finanziell üppig vom Springer-Verlag ausgestattet. Das Portal will sich auf Geschichten über Intrigen, Kampagnen und Schicksale im europäischen Zentrum der Macht konzentrieren.
  • Zum Konzept gehört es auch frühzeitige Informationen zu geplanten Verordnungen, Richtlinien und Dossiers zusammenzustellen, die gegen Gebühr abonniert werden können.

Von Cerstin Gammelin, Brüssel

Die Vergangenheit liegt in einer Mülltonne. Sie steht in der sechsten Etage des Pressehauses im Brüsseler Europaviertel. Ausrangierte Zeitungen, obenauf Visitenkarten. Es sind die Reste der European Voice, einer Wochenzeitung für Nerds des europäischen Politikbetriebes. Die Namen in der Tonne werden in diesen Tagen auf neue Visitenkarten gedruckt. Die sind schmaler als üblich, abgerundete Ecken, durchgestylt in grau mit roter Schrift. Sie erinnern an Schlüsselkarten in Hotels und so sollen sie auch funktionieren: als Türöffner für Redakteure des europäischen Ablegers des Nachrichtenportals Politico.

Politico steht, sagt Chefredakteur Matthew Kaminski, für die Zukunft des Journalismus: "schnell, zielgerichtet, akkurat, fair". Die traditionelle Tageszeitung mit Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und Reisen habe ausgedient. Künftig verdiene nur derjenige Geld im Nachrichtengeschäft, "der seine Leser klar identifiziert."

Die Zukunft des Journalismus in Europa soll kommende Woche beginnen. Am Montag geht die Homepage von Politico online. Am Donnerstag erscheint die erste gedruckte Wochenzeitung. In Englisch.

Springer investiert einen beträchtlichen Teil der Erlöse aus dem Verkauf seiner Tageszeitungen

Damit der Start klappt, hat sich das US-Nachrichtenportal mit dem Springer-Verlag zusammengetan. Gemeinsam haben sie die European Voice gekauft, auf der sie die Redaktion aufgebaut und deren Adressen und Abonnenten sie übernommen haben. Trotz der üppigen finanziellen Ausstattung - Springer investiert einen beträchtlichen Teil der Erlöse aus dem Verkauf seiner Tageszeitungen - ließen sich die am besten vernetzten Spitzenjournalisten von Financial Times, Guardian oder Spiegel nicht überzeugen zu wechseln.

Politico wagt das größte Experiment in der europäischen Medienszene seit Gründung der Gemeinschaft. Bisher sind die Medien national ausgerichtet: Deutsche Reporter berichten für deutsche Leser aus Brüssel. Genauso machen es Franzosen, Spanier, Italiener. Die US-Amerikaner von Politico wollen den europäischen Markt mit dem gegenteiligen Konzept erobern. "Wir machen Nachrichten für alle, die großes Interesse an Entscheidungen haben, die in der EU fallen und dabei nicht die nationale Perspektive lesen wollen", sagt Florian Eder, Mitglied der Politico-Chefredaktion, früher EU-Korrespondent der Welt. Brüssel soll als europäische Hauptstadt im Zentrum der politischen Nachrichten stehen so wie Washington als US-Hauptstadt.

Bei den Bewohnern der europäischen Enklave, die sich chronisch vernachlässigt fühlen, löst diese Botschaft glückliche Reaktionen aus. Dass Politico nach Europa komme, beweise doch, dass Brüssel und die Institutionen "als Bauchnabel Europas" immer mehr an Bedeutung gewinnen, sagt die Sprecherin von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

Eindringen ins Zentrum der Macht

Kaminski argumentiert, Brüssel sei das "regulative Zentrum". Nationale Hauptstädte seien für sich genommen einflussreich. Aber in Brüssel liefen eben alle nationalen Fäden zusammen. Und dort, wo alle Fäden zusammen liefen, liege das Zentrum der Macht. In dieses wollen die Redakteure von Politico eindringen, um mit Geschichten über Intrigen, Machtspiele, Kampagnen, Allianzen und Schicksale Leser zu gewinnen. "Unsere Obsession ist Macht", sagt Kaminski, der vom Wall Street Journal gewechselt ist. Er wolle nicht das Projekt Europa vorantreiben, sondern Machtpolitik abbilden.

Chefs geben viel Geld aus, um zu wissen, was die Konkurrenz treibt

Parallel dazu kümmern sich Teams um frühzeitige Informationen zu geplanten Verordnungen, Richtlinien und Dossiers. Was läuft bei Gasverträgen, Medikamentenzulassungen, genmodifizierten Lebensmitteln? Die Teams machen daraus Themendienste, die Politico für fünfstellige Jahresbeträge an Lobbyisten und andere verkauft. Es ist das Konzept, mit dem das Portal schon in Washington erfolgreich ist. Und Brüssel ist nach Washington der weltweit zweitgrößte Lobby-Platz, mit mehr als 8000 Lobby-Organisationen.

Der Journalist John Harris war es, der nach 21 Jahren bei der Washington Post absprang und Politico gründete. Aus seiner Beobachtung, dass Chefs notfalls viel Geld ausgeben, um zu wissen, was die Konkurrenz treibt, entwickelte er sein Geschäftsmodell: Wissen, was die anderen machen, und diese Informationen gut erzählt und früher als andere verkaufen.

In Washington funktioniert das Magazin nach dem Zwiebel-Prinzip

Die zahlende Kundschaft, erzählt Harris, gleiche in der Struktur einer Zwiebel. Zuerst müsse er die hundert Top-Entscheider überzeugen. Die nächsten eintausend Leser seien Leute, die lesen müssten, was ihre Chefs lesen. Die nächste Schale, also die nächsten zehntausend, wollten wissen, was die wichtigen Leute machen. In Washington funktioniert das Zwiebelprinzip. Harris beschäftigt 300 Mitarbeiter.

Der Europa-Ableger hat 36 Reporter, die 12 verschiedene Muttersprachen sprechen. Die meisten arbeiten in Brüssel, kleine Teams und Korrespondenten sind über Hauptstädte verteilt. Deutsche, spanische und britische Zeitungen beschäftigen je zwei bis fünf EU-Korrespondenten, andere Nationen noch weniger.

Für Donnerstagabend hat Politico zur Sause geladen. Im glamourösen Ambiente eines Automuseums werden Präsidenten, Generalsekretäre, Fraktionschefs und Botschafter Champagner schlürfen und Visitenkarten tauschen. Sie werden in der ersten Ausgabe der ersten europäischen Lokalzeitung blättern - und vielleicht überrascht sein, wenn sie da schon wieder auf ein Interview mit Jean-Claude Juncker stoßen.

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