Süddeutsche Zeitung

Unser Star für Baku:Mit Rückenwind ins Herzschlagfinale

Wie bei Lena, nur spannender: Bei der Suche nach Deutschlands ESC-Star begeistert der neue Chefjuror Thomas D mit heiligem Ernst und frechen Sprüchen. Schwung bekommt die Sendung durch das neue Abstimmungsverfahren: Aufregender hat noch keine Castingshow die Entscheidung präsentiert. Daran kann auch Moderator Steven Gätjen nichts ändern.

Hans Hoff

"Lasst mir bloß die Shelly drin. Was ist da los, Deutschland?" Thomas D wirkt verstört. Gerade ist seine Lieblingskandidatin auf einen Verliererplatz gerutscht. Aber kaum hat der Jurypräsident das gesagt, springt seine Shelly dank vermehrter Zuschaueranrufe wieder in die Top Fünf, schließlich sogar auf den Platz eins und ist damit eine Runde weiter.

Doch dafür ist Leonie aus der Wertung gerutscht. Das wiederum stört Stefan Raab. "Vergesst mir nicht die Leonie", fleht er fast schon verzweifelt. "Und den Roman." Tatsächlich retten sich Raabs Lieblinge unter die ersten Fünf. Am Ende ist es der arme Kai, der auf den sechsten Platz rutscht und damit gemeinsam mit den vier nach ihm Platzierten keine Chance mehr hat "Unser Star für Baku" zu werden.

Es hätte kaum besser laufen können für Stefan Raabs neues Abstimmungsverfahren, bei dem die Zuschauer und auch die Kandidaten ständig verfolgen können, wer die besten Chancen hat, Deutschland demnächst beim Eurovision Song Contest (ESC) vertreten zu dürfen. Fünf von zehn Kandidaten hatten die Chance, im Auswahlverfahren eine Runde weiter zu kommen, und bis zur letzten Sekunde lagen sechs Kandidaten gleichauf. In einer Art Fotofinish wurde schließlich um kurz nach 23 Uhr entschieden, im Sport spricht man da gerne von einem Herzschlagfinale. Spannender wurde noch keine Castingshowentscheidung präsentiert.

20 Kandidaten - einer fährt nach Baku

Aber dies war ja nur die erste Runde eines achtteiligen Wettbewerbs. In der nächsten Woche folgen die nächsten zehn Kandidaten, und erst am 16. Februar steht fest, wer für Deutschland am 26. Mai in Aserbaidschan antritt. Ob es bis dahin jedes Mal so spannend wird, muss sich zeigen. Sicher ist schon jetzt, dass wieder jede Menge beeindruckender Talente Raabs Ruf gefolgt sind und sich anschicken, in Lenas große ESC-Fußstapfen zu treten. Da sind nicht nur die bereits genannten Gewinner Shelly, Roman und Leonie. Da sind auch Celine und Katja, wobei ziemlich sicher zu sein scheint, dass Celine, Shelly und Roman jene sind, die am weitesten kommen werden.

Doch Talent ist nicht alles im deutschen Fernsehen, weshalb "Unser Star für Baku" die Auffrischung durch das neue transparente Abstimmungssystem unbedingt brauchte. Ohne das sportliche Spannungsmoment hätte das 2010 geprobte Ausleseverfahren keine Chance gehabt gegen die aktuelle Konkurrenz von "The Voice Of Germany" oder "DSDS".

Wenn man nämlich rekapituliert, wie die Shows 2010 und 2011 gelaufen sind, erinnert man sich vor allem daran, dass da zwar eine aufregende Sängerin namens Lena gefunden wurde und im Folgejahr ein Lied für sie, dass die zugehörigen Shows sich aber jenseits der Frolleinwunderentdeckung gelegentlich auch arg in die Länge zogen und in Sachen Spannung arge Schwächen aufwiesen.

Die Schwächen der aktuellen Show kulminieren vor allem im neuen Moderator. Während Sandra Rieß, die Nachfolgerin der arg tantigen Sabine Heinrich, ihr Sache ganz keck über die Runden bringt, erweist sich der ProSieben-Allrounder Steven Gätjen in den Fußstapfen des großen Matthias Opdenhövel als labernder Vollflop. Mit Gätjens Ansagetalenten ist man möglicherweise in einer Fußgängerzone beim Verkauf von Wunderklebern ganz gut aufgehoben, aber nicht auf einer Showbühne. Besonders schmerzlich zeigt sich das, als er eine Kandidatin mit dem Namen Jil Rock ankündigen muss. Da fällt ihm nichts Besseres ein als "jetzt wird gerockt".

Auch als Thomas D mit losem Spruch einem glücklosen Kandidaten erklärt, warum sein Beitrag nicht funktionieren konnte, kann Gätjen das Wort nicht halten. Anstatt sich fein zurückzuhalten, wie es seine Aufgabe wäre, muss er auf den Spruch des Jurypräsidenten unbedingt noch einen draufsetzen. "Wenn man diesen Song singt, muss man Eier haben, die nicht in die Hose passen", urteilt Thomas D, woraufhin Gätjen einen untauglichen Tröstungsversuch am Kandidaten probiert. "Vielleicht wachsen sie ja noch", raunzt er und fühlt sich in dem Moment mit Sicherheit wie ein kleiner Gottschalk. Dabei ist er nur eine moderierende Belästigung gegen die jeder Sprachautomat, der auffordert, eins, zwei oder drei zu drücken, wie eine kreative Alternative wirkt.

Ob am Ende der Showreihe eine neue Lena präsentiert werden kann, muss man abwarten. Fest steht aber, dass Raab und sein Team mindestens mit dem gleichen Elan und der gleichen Ernsthaftigkeit an die Sache herangehen wie schon in den Vorjahren. Sie nehmen ernst, was sie da tun, und sie finden es wirklich wichtig. Solch eine Einstellung ist eine eher rare Angelegenheit im eher abgeklärten Castingshow-Business.

Kein Kuschelkurs der Jury

Wie viel Herzblut und Anteilnahme da drin steckt, zeigt sich während einer Werbepause kurz vor Schluss der Show. Da fleht Thomas D das Publikum in den Kölner Raab-Studios an, beim Schnelldurchlauf auch für den ganz hinten liegenden Kandidaten mit der gleichen Kraft wie für die anderen zu applaudieren. "Das ist ein Supertyp. Der hat sich nur den falschen Song ausgesucht", begründet er seine Bitte.

Auch vorher schon hat sich der neue Jurypräsident als respektable Persönlichkeit erwiesen, der es ganz offensichtlich um etwas geht. Thomas D sagt sehr klar, wenn etwas daneben gegangen ist. Das unterscheidet sich angenehm vom Kuschelkurs der Jurys in den Vorjahren. Da wird auch mal Klartext gerappt. "Der D bedankt sich, doch ich fürchte es langt nicht", teilt er einem Selbstüberschätzer mit, der am Ende weit hinten landet. Spätestens da wird deutlich, dass der Rapper hier der künstlerische Leiter ist. Die sportlichen Aspekte und das Organisatorische überlässt er seinem TV-Produzenten Stefan Raab. In der Mischung können es die beiden noch weit bringen. Wenn sie so weitermachen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1256765
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de/liv
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.