Ungarische Journalisten in Brüssel:Freimeinungszone

Ungarische Journalisten in Brüssel: Der ungarische Premierminister Viktor Orbán:: Das Land stürzte in der Rangliste von "Reporter ohne Grenzen" von Platz 23 auf Platz 89.

Der ungarische Premierminister Viktor Orbán:: Das Land stürzte in der Rangliste von "Reporter ohne Grenzen" von Platz 23 auf Platz 89.

(Foto: Darko Vojinovic/AP)

In ihrer Heimat wird die journalistische Unabhängigkeit immer mehr unterdrückt. Den ungarischen EU-Korrespondenten kommt deshalb eine immer wichtigere Rolle als Pressevertreter zu.

Von Karoline Meta Beisel und Matthias Kolb, Brüssel

Wenn Viktor Orbán nach Brüssel kommt, hält er sich schon lange nicht mehr mit normalen Pressekonferenzen auf. Über die Treffen der Staats- und Regierungschefs spreche Orbán seit 2017 nur noch mit regierungsfreundlichen Journalisten, sagt Katalin Halmai, die EU-Korrespondentin der Tageszeitung Népszava: "Wir werden nicht eingeladen."

Mit "wir" meint die 61-Jährige jene Handvoll ungarischer Journalisten in Brüssel, die wie sie für unabhängige Medien arbeiten - also oft nicht das schreiben, was Orbán zu Hause über Brüssel und die EU erzählen will. Seit er 2010 zum zweiten Mal Ministerpräsident wurde, hat er die Medien so stark auf die Linie seiner Fidesz-Partei gebracht, dass sein Land in der Rangliste von "Reporter ohne Grenzen" von Platz 23 auf Platz 89 abgestürzt ist. Die Arbeit von Halmai und ihren Kollegen macht das schwieriger - aber auch wichtiger.

International Press Association

Katalin Halmai, EU-Korrespondentin der Tageszeitung "Népszava".

(Foto: Thierry Monasse)

"Wenn die Menschen in Ungarn nicht verstehen, was hier passiert, ist es sehr leicht, sie in die Irre zu führen", sagt zum Beispiel Eszter Zalan. Die 41-Jährige kam 2011 als Korrespondentin für Népszabadság nach Brüssel, damals die größte Tageszeitung Ungarns. 2016 wurde diese von Vertrauten Orbáns erst gekauft - und dann eingestellt.

Zalan ist immer noch in Brüssel, um den Ungarn die EU zu erklären - aber andersherum auch Ungarn der europäischen Öffentlichkeit. Hauptberuflich arbeitet sie für EU Observer, ein englischsprachiges Web-Medium, das aus gesamteuropäischer Perspektive über die EU berichtet. Neben dem Brexit verfolgt sie dort vor allem Rechtsstaats- und Haushaltsfragen - also jene Themen, bei denen Ungarn oft eine besondere Rolle spielt.

Ihr Ziel: Erklären, was passiert, aber ohne die politische Färbung

Am Feierabend wechselt Zalan die Perspektive. 2012 hat sie gemeinsam mit anderen Journalisten ein ungarischsprachiges Blog über EU-Politik gegründet: EUrologus - ein Wortspiel auf das ungarische Wort für "Urologe" (im Logo des Blogs pinkelt Manneken Pis, das Wahrzeichen Brüssels). Sie wollten lockerer, lustiger, aber eben auch: verständlicher über die EU schreiben. Ihr Ziel: Erklären, was passiert, aber ohne die politische Färbung, die oft aus Orbáns extrem EU-kritischer Regierung kommt.

Weder Zalan noch Halmai wirken verbittert oder frustriert. Halmai gibt aber zu, dass ihr die permanente Ungarn-Schelte manchmal zusetzt: "Es ist nicht schön, wenn das eigene Land dauernd kritisiert wird. Aber ich weiß, dass sich die Kritik gegen die Regierung richtet und nicht gegen die Menschen."

Zalans Erklärung für Orbáns anhaltende Popularität: Er nutze das Gefühl vieler Osteuropäer, nicht als ebenbürtig behandelt zu werden

Die anhaltende Popularität Orbáns bei den Wählerinnen und Wählern erklärt Zalan so: Er nutze das Gefühl vieler Osteuropäer, vom Westen nicht als ebenbürtig behandelt zu werden. Die Bürger hätten sich nach der Erweiterung 2004 nicht die Mühe gemacht, einander kennenzulernen, sagt sie. Das merke man auch in Brüssel, wo Journalisten aus Ost- und Westeuropa oft jeweils unter sich blieben. Nicht aus bösem Willen - es sei ein Reflex.

Ungarische Journalisten in Brüssel: Eszter Zalan,früher Brüssel-Korrespondentin für "Népszabadság", die größte Tageszeitung Ungarns, die 2016 eingestellt wurde. 2012 gründete Eszter Zalan "EUrologus", einen ungarischsprachigen Blog.

Eszter Zalan,früher Brüssel-Korrespondentin für "Népszabadság", die größte Tageszeitung Ungarns, die 2016 eingestellt wurde. 2012 gründete Eszter Zalan "EUrologus", einen ungarischsprachigen Blog.

(Foto: Screenshot:Youtube)

Um zu wissen, was Fidesz-Politiker zu Hause sagen, gehören die Twitter-Accounts von Zalan, Halmai sowie der Politico-Redakteurin Lili Bayer für andere EU-Korrespondenten, aber auch für Politiker zu den wichtigsten Quellen, schon weil die Journalistinnen oft auf Englisch twittern. Zalan zum Beispiel wurde auch schon von der Bild zitiert: Es ging um einen ungarischen EU-Abgeordneten und Orbán-Vertrauten, der im Brüsseler Schwulenviertel an einer Orgie teilgenommen und dabei sämtliche Corona-Regeln gebrochen hatte.

Katalin Halmai sieht diese Tweets zwar nicht direkt als Service für die internationalen Kollegen - sie wolle ihnen aber dabei helfen, korrekt zu berichten. Früher hätten nur wenige über ihre Heimat geschrieben, sagt Eszter Zalan: "Jetzt habe ich manchmal den Eindruck, jeder ist ein Ungarn-Experte."

In Ungarn dagegen war die Entwicklung Halmai zufolge andersherum: Rund um den EU-Beitritt 2004 sei das Interesse an der EU sehr groß gewesen, danach habe es sich normalisiert. Halmai arbeitete fünf Jahre im EU-Parlament, doch als sie 2014 in den alten Job zurückkehrte, merkte sie bei vielen Gesprächspartnern eine Veränderung: "Viele reagierten misstrauisch, wenn ich mich als Journalistin aus Ungarn vorstellte. Erst nachdem ich erklärte, dass mein Arbeitgeber unabhängig sei, entspannte sich das Gespräch."

2014 noch unvorstellbar: Ein Land strebt nach dem EU-Beitritt Richtung Autokratie

Zu Beginn ihrer Brüssel-Zeit, etwa bis 2014, beobachtete Eszter Zalan, dass Orbán als "interessantes Phänomen" angesehen wurde: ein "junger, ambitionierter Ministerpräsident irgendwo am Rand der EU, der sich noch einfinden wird". Dass ein Land nach dem EU-Beitritt in Richtung Autokratie streben könnte, schien damals unvorstellbar: "Erst mit etwas Abstand haben die Leute verstanden, dass Orbán Teil desselben Phänomens ist, zu dem auch der Brexit oder der Erfolg von Donald Trump gehören", sagt Zalan.

Die EU-Kommission und die anderen Mitgliedstaaten tun sich bis heute schwer, dem Abbau der Demokratie in Budapest etwas entgegenzusetzen. Ende September veröffentlichte die Behörde ihren ersten Rechtsstaatsbericht, und das Kapitel über Medienfreiheit in Ungarn ist eindeutig. Weil es an Transparenz und Kontrolle fehle, würden "erhebliche Mittel für staatliche Werbung regierungsfreundlichen Unternehmen zugewiesen, wodurch der Regierung die Tür geöffnet wurde, um indirekten politischen Einfluss auf die Medien auszuüben".

Mit etwa 20 Prozent wird der Marktanteil der unabhängigen Medien in Ungarn angegeben, diese litten zudem unter "einer systematischen Behinderung und Einschüchterung". Kritische Berichterstattung finde fast nur noch im Internet statt. EUrologus ist ein Beispiel dafür: Lange gehörte das Blog zu Index.hu, dem größten Onlineportal des Landes - aber auch das verlor im Sommer 2020 seine Unabhängigkeit. Jetzt ist EUrologus bei einem Wirtschaftsmagazin angedockt, aber die Finanzierung des Projekts bleibt trotz einiger Spenden schwierig.

"Freie Medien werden in Ungarn immer mehr erstickt."

Orbáns Regierung dagegen schuf 2018 eine Stiftung, in der knapp 500 regierungsfreundliche Medienunternehmen zusammengelegt wurden - ohne Prüfung durch die Medien- oder Wettbewerbsbehörde. Dass auch die EU-Kommission den Vorgang nicht geprüft hat, ärgert Ungarn-Experten wie die grüne EU-Abgeordnete Gwendoline Delbos-Corfield. "Freie Medien werden in Ungarn immer mehr erstickt", sagt sie nüchtern. Wenn Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die EU-Mitgliedsländer weiterhin nicht einschritten, drohe weiterer Schaden im ungarischen Mediensystem, der kaum mehr zu reparieren sei.

Natürlich entgeht auch den Korrespondentinnen in Brüssel nicht, wie schwierig die Arbeit für die Kollegen zu Hause ist. "Ihnen wird der Zugang zu grundlegenden Informationen verweigert, sie müssen dauernd klagen oder vor Gericht gehen", sagt Katalin Halmai. Ihr Lebensmittelpunkt ist längst Brüssel, nach Ungarn reist sie nur noch in den Ferien. Eszter Zalan gehört einer anderen Generation an, aber eine berufliche Zukunft kann auch sie sich in ihrer Heimat derzeit nicht vorstellen: "Ungarn ist für Journalisten gerade kein guter Ort."

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