Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó ist derzeit die Lachnummer der Nation: Während er sich auf sozialen Medien schwer beschäftigt in Anzug und Schlips im Büro präsentierte, wo er sich in zahlreichen Telefongesprächen mit europäischen Kollegen um die Krise in Belarus zu kümmern vorgab, war er in Wirklichkeit ganz woanders: Reporter entdeckten ihn, anstatt im Ministerium, mit seiner Familie im Urlaub auf der Luxusyacht des Unternehmers László Szijj, die vor der kroatischen Küste kreuzte.
Szijj, Bau-Unternehmer und ein guter Bekannter von Premierminister Viktor Orbán, ist einer der reichsten Männer in Ungarn. Außenminister Szijjártó mochte sich nicht dazu äußern, warum er auf der Luxusyacht des Wirtschaftsbosses urlaubte - und auch nicht dazu, wie er gleichzeitig im Ministerium hätte sein können. Er habe "ein Recht auf Privatsphäre". Die Geschichte hat in Ungarn viel Staub aufgewirbelt; aufgedeckt wurde sie von Reportern des Investigativ-Mediums Atlatszo.hu. Auch die Online-Nachrichtenseite Index.hu schreibt auf ihrer Webseite über den unter Korruptionsverdacht stehenden Außenamtschef.
Ungarn:Orbáns System der "nationalen Kooperation"
Ein alter Schulfreund des Regierungschefs wird zum reichsten Mann Ungarns, die Firma seines Schwiegersohns erhält von der EU geförderte Aufträge in Millionenhöhe. Doch Korruptionsermittlungen verlaufen im Sand.
Fraglich ist allerdings, wie lange Index, das zeitweilig eine Million Leser pro Tag hatte, noch ungehindert über Skandale und Intrigen in der Regierungspartei Fidesz berichten kann. Index-Redakteure berichten, Ákos Balogh, der zeitweilig Orbáns Webseite betreute, einen Newsletter für die Jugendorganisation von Fidesz herausgab und für das regierungsnahe Medienhauses Mandiner tätig war, sei zum neuen stellvertretenden Chefredakteur berufen worden.
Fidesz-nahe Unternehmer treten momentan besonders oft als Medien-Investoren auf
Noch arbeitet die bisherige Redaktion bei Index; ihre Arbeitsverträge zwingen die Journalisten dazu. Aber ab Anfang September beginnt eine neue Ära; ein komplett neues Team wird übernehmen. Denn vor etwa vier Wochen hatten fast alle der 90 Beschäftigten hingeschmissen - aus Protest gegen den drohenden Verlust der journalistischen Unabhängigkeit von Index und die Kündigung ihres Chefredakteurs Szabolcs Dull. Dieser hatte zuvor, im Namen der Redaktion, vor politischer Einmischung von außen gewarnt, weil sich ein Orbán-naher Investor eingekauft hatte und die Eigentümer das beliebte Nachrichtenportal umstrukturieren wollten.
Tausende gingen daraufhin in vielen Städten Ungarns auf die Straße und protestierten gegen eine weitere Einschränkung der Medienfreiheit. Außenminister Szijjártó, der sich aktuell von kritischen Medien verfolgt sieht, sagte damals laut ORF sarkastisch, die Regierung respektiere selbstredend die Pressefreiheit und überhaupt: Man könne doch gar keinen Einfluss auf die Website nehmen. Diese befinde sich ja in privater Hand.
Dull ist, anders als die meisten seiner Ex-Kollegen, freigestellt, weil ihm sein ehemaliger Arbeitgeber den Verrat von Geschäftsgeheimnissen vorwirft. Gegenüber der SZ merkt er kritisch an, das frühere Management habe immer Probleme damit gehabt, wenn Politiker direkt bei Index interveniert hätten. "Jetzt ist der ehemalige Politiker Balogh offenbar an Bord"; der könne nun im Zweifel direkt eingreifen. Er selbst habe sich immer gegen Einflüsse von außen verwahrt, denn "unter Druck kann man keine gute Zeitung machen". Dull fordert alle Chefredakteure in Ungarn auf, entsprechendem Druck aus Politik und Wirtschaft zu widerstehen; es sei offensichtlich, dass regierungsnahe Unternehmer versuchten, so viele Medien unter ihre Kontrolle zu bringen wie möglich.
Das ist in den vergangenen Jahren schon weitgehend gelungen. Fidesz-loyale Oligarchen, schreibt etwa András Földes für die Heinrich-Böll-Stiftung in einer aktuellen Analyse, hätten bereits Hunderte privater Medien übernommen oder aber eingestellt: Tageszeitungen, Webseiten, TV- und Radiosender und alle Regionalzeitungen. 2018 habe eine Gruppe von Oligarchen, unterstützt von Orbán, ihre Portfolios an eine Holding namens Central European Press and Media Foundation übertragen. Mehr als 80 Prozent der ungarischen Medien stünden mittlerweile direkt oder indirekt unter Regierungskontrolle, schätzt auch das Investigativportal Atlatszo.hu. Derzeit versuche die Regierung ihren Einfluss auf Medien in den Nachbarländern auszuweiten. Laut Reporter ohne Grenzen steht Ungarn, was die Medienfreiheit angeht, in der EU an zweitletzter Stelle.
Veronika Munk war bisher stellvertretende Chefredakteurin bei Index. Sie hatte am 24. Juli ebenfalls gekündigt. " Index war und ist Teil meiner Identität", sagt sie der SZ. Die Pressefreiheit in Ungarn, so die Journalistin, die derzeit auf Jobsuche ist, sei in einem sehr schlechten Zustand. "Unabhängige Medien, die ihre Kontrollfunktion ausüben, sind seit zehn Jahren im Niedergang." Aber, so Munk erkennbar besorgt, jede funktionierende Demokratie brauche eine bunte und diverse Medienlandschaft. In den vergangenen Wochen habe die scheidende Mannschaft bei Index noch weitgehend unbeeinflusst arbeiten können; aber die Zeit laufe aus. "Da praktisch die gesamte Redaktion von Index geht, wird die Transformation der 20 Jahre alten, landesweit beliebten Webseite ein großes Loch im politischen Diskurs hinterlassen."
Die Bedingungen für unabhängigen Journalismus seien bei ihrem früheren Arbeitgeber zuletzt nicht mehr gegeben gewesen; nun wolle das scheidende Team eine neue Webseite gründen. Munk konkretisiert damit, was unter ungarischen Journalisten als Gerücht seit Wochen kursiert: Ein neues Projekt ist in Arbeit. Es solle explizit "nicht regierungskritisch oder oppositionsnah" sein und journalistische Unabhängigkeit sowohl durch die Besitzverhältnisse als auch durch die Professionalität der Mitarbeiter garantieren.
Derweil hält, neben Atlatszo, auch das kleine Investigativportal Direkt36.hu die Stellung und sich selbst mit Spenden einigermaßen über Wasser; von Anzeigen, die ganz überwiegend an regierungsnahe Medien gehen, kann keine der unabhängigen Webseiten im Land leben. András Pethö, einer der Chefs von Direkt, erinnert sich daran, wie er vor sechs Jahren das Nachrichtenportal Origo verlassen musste, das damals an regierungsnahe Eigentümer ging. "Ich wusste: Wenn ich weiter als Journalist arbeiten will, brauche ich dafür innere und äußere Freiheit." Deshalb habe er sich mit Freunden selbständig gemacht. "Wir wollen den Mächtigen weiter auf die Finger schauen."