30 Jahre Mauerfall:Der Kronzeuge

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Der Journalist Ulrich Schwarz in seiner Berliner Wohnung (Foto: Regina Schmeken)

Als einziger West-Journalist fuhr Ulrich Schwarz für den "Spiegel" am 9. Oktober 1989 zur großen Demonstration nach Leipzig - und schmuggelte ein Video in den Westen, das Geschichte schrieb.

Von Annette Ramelsberger

Der Klassenfeind war unterwegs nach Rostock, als er mitten am Tag auf gerader Strecke von der Straße abkam und sich mit seinem Wagen mehrmals überschlug. Ulrich Schwarz, Korrespondent des Nachrichtenmagazins Der Spiegel in der DDR, war am Steuer bewusstlos geworden - das war ihm nie zuvor geschehen und geschah nie wieder danach. Schwarz wurde schwer verletzt, nur die massive Karosserie seines Volvos verhinderte, dass der Unfall tödlich endete. Kaum war er im Krankenhaus, rief auch schon das Ministerium für Staatssicherheit an: Ob Schwarz transportfähig sei? Nein, antwortete der Arzt, trat ans Krankenbett und bedeutete dem Patienten vielsagend, diese Auskunft sei doch sicher in seinem Sinne. Nicht dass da noch einmal was passiert ...

Der Unfall ereignete sich 1987, und bis heute ist Schwarz davon überzeugt, dass seine Ohnmacht keine natürliche Ursache hatte. Nur vier Jahre zuvor war der DDR-Nationalspieler Lutz Eigendorf auf gleiche Weise verunglückt. Eigendorf hatte sich in den Westen abgesetzt. Zahlreiche Spitzel waren auf ihn angesetzt, es gab einen Mordauftrag durch die Staatssicherheit. Dann starb er in seinem Auto auf einer Straße in Braunschweig. Ob sein Unfall ein Mord war, ist bis heute ungeklärt.

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Schwarz war für die DDR der Feind, sogar ein besonders gefährlicher. Die Stasi nannte ihn "Tarantel". Schon einmal hatte sich Ost-Berlin seiner entledigen wollen, 1978, als die Regierung das Spiegel-Büro in Ost-Berlin schloss und den Korrespondenten Schwarz des Landes verwies. Er hatte exklusiv über die innerparteiliche Opposition in der SED berichtet. Jahrelang durften Spiegel-Leute nicht in die DDR einreisen, nicht mal zur Beerdigung ihrer Eltern. Erst nach sieben Jahren, nach intensiven Verhandlungen der Bundesregierung mit der DDR, wurde das Büro wieder eröffnet: Schwarz war wieder da.

Ob der Unfall ein Mordanschlag war, ob sein Lenkrad mit einem Kontaktgift präpariert war, Schwarz konnte es nie aufklären. Seine Stasi-Akte war nach dem Zusammenbruch der DDR erstaunlich dünn, wie aussortiert und tiefengereinigt. "Die nassen Sachen hat die Stasi als erstes vernichtet", sagt Schwarz. Nasse Sachen - das waren Morde, Anschläge, alles Kriminelle. Das knappe Dutzend Korrespondenten aus dem Westen galt als Feinde, die man nur wegen der internationalen Anerkennung ins Land ließ und dort dann in Ost-Berlin festhalten wollte. Jede Fahrt nach Rostock oder Leipzig musste im Außenministerium der DDR 24 Stunden vorher angemeldet werden. Schwarz meldete sich nie ab.

Aus den Akten erfuhr er, dass der Geheimdienst überlegt hatte, seine Tochter anzuwerben

Doch die Stasi ließ Schwarz minutiös überwachen, notierte seinen Tagesablauf, setzte Spitzel auf ihn an, die sich mit ihm anfreundeten, mit ins Theater gingen. Und sie zapfte den Telefonanschluss seiner Frau im 280 Kilometer entfernten Hamburg an. Aus den Stasi-Akten erfuhr er, dass der Geheimdienst auch überlegte, seine Tochter anzuwerben. Die Stasi hatte Schwarz eingesponnen, Herr wurde sie ihm nicht.

Schwarz wandelte wie alle Korrespondenten bei seiner Arbeit an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts auf dem schmalen Grat zwischen diplomatischem Dienst und journalistischem Anspruch. Das brachte ihn auch in Bedrängnis. Am 13. August 1986, dem 25. Jahrestag des Mauerbaus, stand ein junger evangelischer Vikar in Sichtweite der Mauer und hatte ein Transparent aus dem Fenster gehängt: "Jesus stirbt an der Mauer in den Köpfen." Und: "25 Jahre sind genug." Der Mann war verhaftet worden, ihm drohte lange Haft. Schwarz hatte davon erfahren und mit dem DDR-Anwalt Gregor Gysi darüber geredet. Der Deal war: Entweder der Mann kommt wieder frei und der Spiegel schweigt. Oder der Spiegel bringt die große Geschichte und schreibt, dass die DDR noch nicht mal so harmlose Kritik aushält. Seine Redaktion drängte ihn, zumindest über die Verhaftung zu schreiben. "Ich liefere keine Leute ans Messer", sagte Schwarz und schrieb nicht. Der Vikar kam frei. Von da an hatte Schwarz Zugang zu Menschen wie dem rebellischen Pfarrer Rainer Eppelmann oder der Witwe des Regimekritikers Robert Havemann. Aber sein Blatt hatte eben auch keine Geschichte. Und sein Chefredakteur hielt Schwarz vor, in der DDR nur mit seinen Kirchenleuten rumzuhängen.

„Wir sind das Volk“ skandierten die Demonstranten 1989. Die DDR versuchte brachial, die Berichterstattung darüber zu unterbinden. (Foto: AP)

Die Arbeit in der DDR erschloss sich den Kollegen im Westen nie wirklich: Es gab dort keine Pressekonferenzen, keine Pressestellen, bei denen man anrief. Reisen konnte man nur mit genauen Absprachen mit dem Außenministerium und umlagert von Aufpassern, das Betreten von Rathäusern war verboten, das Ansprechen und Befragen von DDR-Bürgern genauso. Und kam in einem Text doch mal ein echter Bürger vor, so hatte der nie einen Namen. Denn wer sich mit West-Journalisten traf, galt sofort als Klassenfeind. Als Korrespondent achtete man darauf, dass die Quelle nicht zu orten war. Deswegen lasen sich all die Texte so leblos, so unkonkret - so wie dem Westen die gesamte DDR vorkam. Und niemand, der nicht unter diesen Bedingungen arbeitete, wusste einzuschätzen, was es bedeutete, diesem Staat täglich ausgeliefert zu sein. Bei Schwarz läutete einmal nachts um 2 Uhr das Telefon, es war ganz still in der Leitung, dann flüsterte eine Stimme: "Leb wohl, leb wohl." Schwarz war ganz allein in seiner Dienstwohnung an der Leninallee, er fuhr noch in der Nacht hinüber nach Westberlin und nahm sich ein Hotel. Am nächsten Tag machte er weiter. Genauso wie nach seinem Autounfall. "Du arbeitest hier weiter", befahl er sich. "So lässt du dich nicht vertreiben."

Als 1989 die Proteste nicht mehr zu übersehen waren, versuchte die DDR brachial, die Berichterstattung zu unterbinden. Schlägertrupps drängten Journalisten von Demonstrationen weg, Korrespondenten wurde verboten, nach Leipzig zu fahren, wo Bürgerrechtler für den 9. Oktober 1989 eine Demonstration planten. Das DDR-Außenministerium rief sogar in Chefredaktionen im Westen an, damit die ihre Korrespondenten anwiesen, nicht nach Leipzig zu fahren. Viele gehorchten. Schwarz fragte erst gar nicht in Hamburg nach. Er setzte sich in den Zug und fuhr. Er sah, wie die Menschen auf die Straße strömten, er sah, wie dieser Zug zum Fanal gegen die DDR-Regierung wurde. Doch natürlich berichtete das DDR-Fernsehen nicht darüber und Handykameras waren noch nicht erfunden. Niemand konnte sehen, was geschah.

Schwarz entdeckte bei der Demonstration zwei Bürgerrechtler, die er aus Berlin kannte: Aram Radomski und Siegbert Schefke. Sie verabredeten sich auf ein Bier nach der Demo, dann verschwanden die zwei. Als Schwarz sie wieder traf, hatten sie ein Video in der Tasche, das brisanteste, das Schwarz in seiner Zeit in der DDR je zu Gesicht bekommen hatte. Die beiden waren auf einen Kirchturm geklettert und hatten den Demonstrationszug gefilmt. "Das hätte den beiden 20 Jahre Bautzen einbringen können", sagt Schwarz. Bautzen, das war das härteste Gefängnis in der DDR.

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Ulrich Schwarz ist heute 82 Jahre alt, nach dem Fall der Mauer war er lange Ressortleiter beim Spiegel in Hamburg, das stählt. Er ist keiner, der sentimental alte Erinnerungen wälzt. Er hat noch nicht mal ein Stück der Mauer aufgehoben. Aber wenn er von diesem Abend in Leipzig spricht, vom Mut der Menschen, dann kommt es einem vor, als würden seine Augen feucht. "Das ist das Stärkste, was ich in der DDR erlebt habe", sagt er und kneift schnell die Lider zusammen.

"Dass dieses Land einfach so in sich zusammensackt, so lautlos, das hätte ich nicht gedacht" - Ulrich Schwarz

Er ist dann mit Schefke und Radomski in ihren Trabi gestiegen, eiskalt war es, das Fenster ging nicht zu, und hat sie zurück nach Berlin begleitet. Das Video hat er in seine Manteltasche gesteckt. "Wenn uns jemand angehalten hätte, ich hätte gesagt, das Video gehört mir. Mich hätten sie ja nur rauswerfen können aus der DDR, die anderen wären in den Knast gegangen", sagt Schwarz. Noch in der Nacht hat er das Video nach West-Berlin geschmuggelt. Am nächsten Tag lief es in den Tagesthemen. Die halbe DDR schaute zu, wie 70 000 Menschen in Leipzig riefen: "Wir sind das Volk." Eine Woche darauf trat Erich Honecker zurück, einen Monat später ging die Mauer auf, niemand hatte es vorhergesehen, auch Schwarz nicht: "Dass dieses Land einfach so in sich zusammensackt, so lautlos, das hätte ich nicht gedacht."

Der Bundespräsident ehrt den Mann, der als einziger West-Korrespondent in Leipzig gewesen war, nun am 2. Oktober mit dem Bundesverdienstkreuz. "Mit Ihrem Mut und Ihrer Entschlossenheit haben Sie dazu beigetragen, dass der 9. Oktober 1989 ein Wendepunkt der friedlichen Revolution wurde", schreibt Frank-Walter Steinmeier. Als Schwarz dann am 9. November 1989 an die Grenze kam, stand die DDR schon weit offen. All die Jahre war er über den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße gefahren. All die Jahre saß dort ein Grenzer, der ihn stoisch durchgewinkt hatte. Nie hatte er ein Wort gesagt, kein böses, kein gutes. An diesem Abend sagte er: "Na, sind Sie jetzt zufrieden, Herr Schwarz?"

© SZ vom 02.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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