Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Singen und tanzen vor Spezialeinheiten

Zum Eurovision Song Contest bemüht sich die Ukraine, nicht als Kriegs- und Pleiteland dazustehen. Aber allein der Konflikt mit Russland macht die Veranstaltung so politisch wie nie.

Von Cathrin Kahlweit, Kiew

Kiew hat sich schön gemacht für den Eurovision Song Contest, was um diese Jahreszeit nicht schwer ist. Tausende Kastanien blühen, Cafébetreiber stellen ihre Stühle aufs Kopfsteinpflaster und ans sandige Dnepr-Ufer, die goldenen Kuppeln von Sophienkathedrale, St.-Michael-Kloster, St.-Andreas-Kirche und Höhlenkloster leuchten in der Frühlingssonne. Die Hauptschlagader der Stadt, der Kreschtschatik, ist vom Maidan bis fast zum Bessarabischen Basar für eine Fan-Meile gesperrt, überall geben Hobby-Musiker kleine Konzerte, und vor der Sophienkathedrale feiern Hunderte Fans schon eine Woche, bevor es am 9. Mai richtig losgeht, ihre tägliche ESC-Party. Am 13. Mai findet dann das Finale statt; 2016 sahen mehr als 200 Millionen TV-Zuschauer zu.

Das klingt wie Werbung aus einem Reiseprospekt, produziert von der Stadt und ihrem Bürgermeister Vitali Klitschko, finanziert von der European Broadcasting Union (EBU), der Veranstalterin des ESC. Es ist aber nur die eine Seite dieser Groß-Veranstaltung mit Tausenden Besuchern, mit Delegationen aus 42 Ländern und Dutzenden Künstlern, die man in der Ukraine gefürchtet und herbeigesehnt hat. Man will nicht immer nur als Kriegsland (die Front ist 500 Kilometer entfernt) und als korrupter Pleitestaat gesehen werden, sondern sich als europäische Metropole mit dem bröckelnden, warmen Charme von, sagen wir mal, Lissabon präsentieren.

Die andere Seite sieht so aus: Weil die Regierung vor dem Finale einen großflächigen Angriff von Separatistenkräften in der Ostukraine, vor allem aber eine Imageschaden durch Anschläge von Nationalisten oder russischen Provokateuren in der Hauptstadt fürchtet, sichern 10 000 Polizisten die Stadt, alle Polizeikräfte, Nationalgarde und Spezialeinheiten sind in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. 7000 Videokameras sind installiert; besonders im Visier ist das International Exhibition Center auf der linken Flussseite, in dem der ESC produziert wird. 900 Volontäre sind unterwegs, um zu sichern, zu übersetzen, zu erklären. Es gibt Apps auf Englisch und bunte Werbung mit einer Kernbotschaft: Es ist friedlich hier. Und wir sind Europa. Quer über das Gewerkschaftshaus am Maidan, das bei den Kämpfen im Februar 2014 ausbrannte und seither renoviert wird, spannt sich demonstrativ ein riesiges, neues Plakat: "Unsere Religion ist Freiheit".

Die russische Kandidatin bekam kein Visum. Jetzt überträgt dort nicht einmal das Fernsehen

Im Messezentrum am linken Dnepr-Ufer geht es derweil sehr viel prosaischer zu. Täglich finden Durchläufe auf der gigantischen, weit in den Zuschauerraum hineinragenden Bühne statt, die, wie fast jedes Jahr, auch diesmal vom deutschen Designer Florian Wieder entworfen wurde. Der Aufnahmeleiter, ein schwedischer Hüne mit wehenden blonden Haaren, taktet die Proben im Stundenrhythmus: Albania, please. Aserbaidschan, please. Australia, please. "Stay back for the music, five, four, three ...". Auf der LED-Wand zieht ein computergeneriertes Kunstwerk nach dem anderen vorüber, nach jedem Auftritt joggt eine gut choreografierte Putztruppe mit Schrubbern auf die Bühne, um den Schweiß von Tänzern und Sängern aufzuwischen. In der Halle zieht es wie Hechtsuppe, Kameramänner lästern laut über die dicken Beine einer Künstlerin. Lachen und Kommandos vermischen sich zu einem babylonischen Sprachgewirr, das in seiner Heiterkeit symbolisch wirken könnte. Wenn der ESC nur eine unpolitische Veranstaltung wäre. Und wenn es nur um den diesjährigen Claim ginge: "Celebrate Diversity", wir feiern die Unterschiedlichkeit.

Aber der ESC, eines der größten Fernsehereignisse der Welt, ist nicht unpolitisch, war es nie, und so ist es diesmal der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der den Song Contest prägt. Russland hat abgesagt, Kandidatin Julia Samoilova kommt nicht, auch wenn es die Ironie der Veranstaltungsplanung will, dass die russischen Probenzeiten bis zuletzt im Ablauf stehen. Russland überträgt den ESC 2017 nicht mal, womit der EBU (nach der Türkei, die auch nicht mehr teilnimmt), womöglich ein zweiter Markt verloren geht.

Samoilova war nach der Annexion auf der Krim aufgetreten; Moskau hatte sie dennoch für den 62. ESC nominiert, obwohl im Kreml bekannt ist, dass Samoilowa ukrainisches Recht gebrochen hatte. Russische Künstler müssen eine Genehmigung ukrainischer Behörden für die Reise auf die Halbinsel einholen, die Kiew immer noch als eigenes Territorium betrachtet. Kiew erteilte der russischen Kandidatin, die seit Kindheit im Rollstuhl sitzt, daher kein Visum, und der Sturm brach los.

Moskau sprach von einem "unerträglichen, zynischen und unmenschlichen Akt", die Außenamtssprecherin warf Kiew "Paranoia und nationalistische Komplexe" vor. In Kiew verwies man auf die entsprechenden Gesetze und dass man keine Ausnahme mache, zumal dies offenkundig eine Provokation sei. Bei der EBU war - und ist - man ziemlich empört über Kiew, das, so EBU-Pressechef David Goodman zur SZ, mit dem Einreiseverbot EBU-Regeln gebrochen habe, die auch Gastgeber Ukraine unterschrieben habe. Solange Komposition, Text und künstlerischer Zugang den Regeln entsprächen, sei jedes Land frei in der Auswahl seiner Kandidaten. Man behalte sich "Kompensationsforderungen" vor, so Goodman eher vage.

Um zu retten, was zu retten ist, machte die EBU Kompromissvorschläge, etwa den Austausch der Kandidatin oder einen Auftritt per Videoschalte, aber auch das lehnte Russland ab. Anton Schechowtsow, angesehener ukrainischer Politikwissenschaftler, Experte für illiberale Demokratien und die neue Rechte, beschreibt das Vorgehen des Kreml als "reflexive Kontrolle": Man lege einem Gegner ausgesuchte Fakten vor, die diesen zu einer scheinbar freiwilligen Entscheidung brächten, die aber genau im Sinne des Erfinders sei. In diesem Sinne habe Moskau Kiew mit der Kandidatur von Samoilova in die "Mausefalle" gelockt: "Kiew konnte gar nicht anders, als ihr ein Visum verweigern - und damit als hartherzig und behindertenfeindlich dastehen."

Die Show geht also ohne Russland weiter. Hinter der Bühne macht sich ein hübscher Junge bereit für seine Probe und singt schon mal, zum Aufwärmen, die zweite Stimme zur albanischen Kollegin mit, die gerade an der Reihe ist. Isaiah Firebrace ist 17, Aborigine, auf einer Insel südlich von Australien aufgewachsen. Er hat gute Chancen. Die Buchmacher setzen zwar dieses Jahr auf Italien, auch der schwedischen Boygroup werden Chancen eingeräumt, während die deutsche Kandidatin Levina wohl nicht vorn mitspielen dürfte. Sollte aber der begabte Mädchenschwarm Isaiah siegen, fände der nächste ESC jedoch trotzdem in Europa statt. In 15 000 Kilometern Entfernung wäre es vielleicht eine gute Alternative gewesen. Weit, weit weg.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels stand, dass der ESC in Australien stattfinden würde, sollte Isaiah gewinnen. Das ist jedoch regelwidrig. Wir haben den Schluss des Textes korrigiert.

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Quelle:
SZ vom 05.05.2017/cag/cat
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