Wenn eine angesehene Organisation wie Reporter ohne Grenzen einen 50-seitigen Bericht über die Lage der Medien und Journalisten in der Ukraine veröffentlicht, dann tut sie das natürlich nicht, weil alles gut ist. Im Gegenteil: Die Ukraine strebt zwar nach Europa. Aber die offizielle Medienpolitik führe mit dem Verweis darauf, dass man sich im Krieg befinde, zu "falsch verstandenem Patriotismus und Hysterie", heißt es in der breit angelegten Analyse. Der Bericht, den Reporter ohne Grenzen (ROG) an diesem Donnerstag in Berlin vorlegt, zeigt zwar, dass vieles besser geworden ist seit dem Maidan-Aufstand. Aber er belegt auch, dass sich das Land in einem paradoxen Zustand befindet: Es gibt keine Zensur - und es gibt sie doch.
Wie das geht? Die Ukraine befindet sich im Krieg mit den Separatisten im Donbass und deren Unterstützern aus Moskau, also bekämpfen die Behörden, der Geheimdienst, die Regierung, der Präsident das, was sie als russische Propaganda, als Subversion, als Verrat an der gemeinsamen, der nationalen Sache verstehen. Die Folge: Einreiseverbote für russische Journalisten, wie sie gerade erst wieder gegen 17 Mitarbeiter von Moskauer Medien erlassen wurden; auch Human Rights Watch hatte das dieser Tage kritisiert. In der Kritik steht, unter anderem von der Medienbeauftragten der OSZE, außerdem das Abspielverbot für russische Filme, die nach 2014 produziert wurden, sowie für Filme, die nach 1991 entstanden und die russische Polizei oder die Armee in ein positives Licht rücken. Ein paar Dutzend Bücher aus Russland dürfen nicht mehr eingeführt werden. Russische Fernsehsender wurden schon vor zwei Jahren verboten.
In der Begründung des Kulturministeriums heißt es, all das werde getan, um die Bürger der Ukraine vor "Methoden des Informationskrieges und der Desinformation, vor der Verbreitung menschenverachtender, faschistischer, rassistischer und separatistischer Ideologien zu schützen und Angriffe auf die territoriale Integrität und die staatliche Verfassung der Ukraine abzuwehren". ROG-Vorstandsmitglied Gemma Pörzgen, die wochenlang in Lemberg, Kiew und Odessa recherchierte, schließt sich jedoch der Kritik an einer Politik an, die sie zwar als "Wunsch nach Gegenmaßnahmen" erklärt, gleichzeitig aber als leichtfertige Einschränkung der gerade erst errungenen Freiheiten beklagt.
TV-Sender gehören oft mächtigen Oligarchen, die im Programm ihre politischen Botschaften verbreiten
Die Ukraine ist auf der Rangliste der Pressefreiheit ins Mittelfeld aufgerückt, immerhin. Aber das Land, das für sich in Anspruch nimmt, seinen Bürgern - anders als Nachbar Russland - verlässliche und von staatlichem Einfluss freie Information zur Verfügung zu stellen, hat noch viele Baustellen: die Stärkung des öffentlich-rechtlichen Angebots etwa oder die Journalistenausbildung. Pörzgen hat auf ihrer Reise Journalisten, Medienexperten und Medienmanager befragt, und ihre Bilanz ist zwiespältig ausgefallen - nicht nur da, wo es um die Auswirkungen des Konflikts auf die Selbstwahrnehmung der Ukrainer geht. Einerseits gebe es eine pluralistische Medienlandschaft, schreibt sie, auch wenn Zeitungen durch die Wirtschaftskrise und den dramatischen Ausfall von Werbegeldern existenziell bedroht seien. Auch gebe es kaum noch Hinweise auf Bedrohungen und Pressionen gegen kritische Journalisten, wie sie noch unter Expräsident Viktor Janukowitsch an der Tagesordnung waren. "Jetzt übt der Staat keinen Druck mehr auf uns aus, und wir fühlen uns in unserer journalistischen Arbeit frei", sagt ein Lemberger Journalist.
Aber: Der neue Präsident, Petro Poroschenko, ist selbst Inhaber eines - wenn auch kleineren - Fernsehsenders, wie überhaupt Privatsender die ukrainische Fernsehlandschaft dominieren. Diese gehören, das ist allseits bekannt, mächtigen Oligarchen, die weniger an schwarzen Zahlen interessiert sind als daran, über ihre "Privatmedien" politische Botschaften zu versenden und Fehden mit ihren Gegnern auszutragen. Die Redakteure würden bisweilen förmlich zu Marionetten im Kampf der Eigentümer ihres Senders, berichtet ein Betroffener. Da kämen Anweisungen in einer Sendung teilweise auch über den Kopfhörer direkt ins Ohr, etwa "Weicher fragen!" Die Fernsehsender seien ursprünglich als PR-Abteilungen von Unternehmen entstanden, um die eigenen Geschäfte besser befördern und bewerben zu können, heißt es im ROG-Report; leider aber sei ein Gesetz, das die Besitzverhältnisse auch für den Zuschauer transparent machen sollte, zwar verabschiedet, aber nie umgesetzt worden.
Als schwierig gilt zudem die Haltung des Präsidenten gegenüber Journalisten. Ausländische Kollegen scheitern bei Fragen nach Interviews in der Regel schon daran, dass sie keine Antwort bekommen oder vereinbarte Termine abgesagt werden. Ukrainer haben andere Probleme: Der Nachrichtenchef des TV-Senders 1+1, Serhij Popow, berichtet, die Präsidialverwaltung habe die Bedingungen so diktieren wollen, wie es unter Janukowitsch üblich gewesen sei. Man sollte also alle Fragen vorher zusenden und abstimmen. Dann sollte nicht etwa die Kamera von 1+1 zum Einsatz kommen, sondern ein Team des Präsidialapparates, der dann auch den Schnitt erledigt und das fertige Interview zur Ausstrahlung zugesandt hätte. Seit 1+1 dazu nicht mehr bereit sei, bekomme der Sender kein Interview mehr.