Deutschland geht es gut! Oder doch nicht? Erst am Montag legte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie vor, wonach die Kinderarmut in Deutschland wächst: Zwei Millionen Jungen und Mädchen werden in Familien groß, die von staatlicher Grundsicherung abhängig sind, heißt es in der Untersuchung. Das steht für einen Trend, den ähnlich lautende Meldungen untermauern: Die Mittelschicht wird aus den Innenstädten der Metropolen verdrängt, es gibt inzwischen eine wachsende Zahl von Mittelständlern, die sich nicht mal mehr die Krankenversicherung leisten können, und jedem zweiten Bundesbürger droht wegen des sinkenden Rentenniveaus im Alter eine gesetzliche Rente unterhalb der Armutsgrenze, recherchierte im Frühjahr der WDR.
Doch irgendwie muss es Deutschland doch gut gehen! Denn das Land kümmert sich im Augenblick nicht so sehr um seine echten Probleme, sondern lieber um eine Pseudo-Fragestellung, die die Unions-Länderinnenminister aus Angst vor der AfD bei den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin angestoßen haben. Es geht um das Joch, dem Frauen in Deutschland durch das Tragen einer Burka mutmaßlich unterworfen werden.
So vorrangig scheint das Problem zu sein, dass nun sogar der WDR sein Augenmerk von der millionenfach drohenden Altersarmut weg- und zum diskutierten Burka-Verbot hinlenkte: "Offene Gesellschaft, offenes Gesicht - Kulturkampf um die Burka?", fragte am Montagabend Frank Plasberg in der WDR-Talkshow "Hart aber fair". Zu Gast: Julia Klöckner von der CDU, Claudia Roth von den Grünen, der Publizist Michel Friedman, Welt-Korrespondent Dirk Schümer und die muslimische Journalistin Khola Maryam Hübsch.
Wie viele Burka-Trägerinnen gibt es in Deutschland überhaupt?
Gleich an dieser Stelle sei der wichtigste Faktencheck dieser "Hart aber fair"-Sendung vorgezogen, denn er ist für deren Deutung von entscheidendem Belang: Wie viele Burka-Trägerinnen gibt es in Deutschland überhaupt?
Plasberg wies verdienstvollerweise sofort darauf hin, dass es entgegen dem Titel der eigenen Sendung bei dieser Debatte nicht um Burka-Trägerinnen geht (also um jene unheimlichen Vollverschleierten, die nur noch ein Gitter-Sichtfenster zum Gucken haben, die in Deutschland aber so gut wie nie anzutreffen sind), sondern wenn überhaupt um die Niqab-Trägerinnen, die immerhin noch einen Sehschlitz haben. Daher noch einmal präziser gefragt: Wie viele Niqab-Trägerinnen gibt es in Deutschland eigentlich?
Niqab, Hidschab, Burka:Stoff für viel Streit
Sind sie Ausdruck individuellen Glaubens? Ein politisches Statement? Oder gar Mittel aggressiver Missionierung? Hidschab, Niqab und Burka spalten die Öffentlichkeit - eine aufgeregte Debatte, in der alle ein bisschen recht haben.
Ergebnis: Es gibt dazu keine belastbaren Zahlen. Weder das Innenministerium noch die Migrationsbeauftragte Aydan Özoğuz (SPD), noch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, noch die sechzehn zuständigen Landesministerien, noch der Zentralrat der Muslime konnte die entsprechende Anfrage der "Hart aber fair"-Redaktion beantworten: Die Antwort war immer gleich: "Wir wissen es nicht."
Doch die Sendungsmacher wussten sich zu behelfen. Sie hielten sich an mehreren Orten in Deutschland an neuralgischen Punkten auf und siehe da - nach einiger Zeit ward der Niqab gesehen. Etwa in Berlin-Neukölln nach vier Stunden: zwei Niqab-Trägerinnen. München: Hier waren es nach vier Stunden schon 20 Niqab-Trägerinnen, genauso wie in Bonn-Bad Godesberg, wo nach vier Stunden ebenfalls 20 Vollverschleierte gezählt wurden.
Das Problem: Niemand weiß, ob diese Frauen tatsächlich in Deutschland leben. Experten, so die "Hart aber fair"-Redaktion, gingen davon aus, dass es sich um Touristinnen aus dem arabischen Raum handele. Tatsächlich gaben sich schließlich fünf Niqab-Trägerinnen in Bad Godesberg als Medizin-Touristinnen aus Katar zu erkennen.
Dieses Ergebnis deckt sich mit den Eindrücken, die jeder Münchner kennt. Kaum kommen die Sommermonate, nimmt die Zahl der Niqab-Trägerinnen in der bayerischen Landeshauptstadt deutlich zu - sie sind Gäste aus den Golfstaaten, die die saubere, sichere und züchtige, mit Sperrbezirk ausgestattete Landeshauptstadt schätzen und mit ihren goldenen Kreditkarten für hohe Umsätze in Hotels und Luxusboutiquen sorgen. Im Winter ist die Niqab dann wieder so gut wie aus dem Münchner Stadtbild verschwunden.
In Frankreich gibt es ein Burka-Verbot - und bei Verstoß Strafzettel
Das aber bedeutet: In dieser Sendung wurde im Wesentlichen wohl über ein paar Touristinnen aus den Golfstaaten diskutiert, und das relativiert die Frage, wer in dieser Diskussion recht hat, doch sehr.
Denn es wäre vom Ergebnis vermutlich vollkommen egal, ob das Burka- und Niqab-Verbot Gesetz würde, wie es die rheinland-pfälzische CDU-Landesvorsitzende Julia Klöckner und Dirk Schümer, Europa-Korrespondent der Welt, vehement forderten, oder ob ein solches Gesetz nicht kommen wird, wofür sich in der Sendung die grüne Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth und die Journalistin und Muslima Khola Maryam Hübsch mit Verve einsetzten.
Diesen Schluss legt allein der Blick nach Frankreich nahe, wo seit sechs Jahren ein gesetzliches Verbot der Vollverschleierung besteht, das ein fundamentalistischer Kern von circa 2000 Muslima schlicht ignoriert.
Burka-Verbot:Symbolpolitik ist nicht immer schlecht
Aber man darf sich nicht - wie in Frankreich - von der Logik der Terroristen treiben lassen. Denn erklärte Symbolpolitik ist ein Zeichen von Nervosität.
Man kann sich kaum vorstellen, dass Münchner Polizisten den betuchten Frauen vom Golf den Niqab vom Kopf reißen würden, müssten sie ein entsprechendes Gesetz durchsetzen. Sondern sie würden sich vermutlich so verhalten wie ihre französischen Kollegen, die - wenn überhaupt - eine Ordnungsstrafe von 150 Euro verhängen. Diese Burka-Strafzettel werden in Frankreich meist umstandslos bezahlt, meist von vermögenden Wohltätern und islamischen Vereinen, was einen kontraproduktiven Solidarisierungseffekt hat und die Gesellschaft nur noch weiter polarisiert.
Selbst dazu würde es in Deutschland mit seiner verhältnismäßig kleinen Minderheit von ständig hier lebenden Arabern vermutlich gar nicht kommen - die verschleierten Touristinnen würden sich kaum anders verhalten als deutsche Reisende, wenn sie sich irgendwo nicht mehr willkommen fühlen - sie blieben einfach weg.
Damit hätte sich das Problem mit der Vollverschleierung zwar weitgehend erledigt, dafür hätte die CSU mit ihrer derzeitigen Burka-Manie die bayerische Hotellerie am Hals und auch wohl jenen Optiker aus Garmisch, der, wie Dirk Schümer beklagte, nun einen eigenen Raum eingerichtet habe "wegen der vielen Niqab-Trägerinnen. Die kommen da rein, der ist für mich tabu. Da können sie die Sonnenbrillen anprobieren mit einer weiblichen Angestellten. In Deutschland 2016. Das ist ja Apartheid. Das ist wie ein Klo für Schwarze und ein Klo für Weiße."
Deutschland - ein Apartheidstaat, weil ein Optiker sich auf die Kundschaft einrichtet, die das Land in ein paar Tagen wieder verlassen wird? Geht's noch schriller?
Bliebe die rein theoretische Debatte, die hinter dem geforderten Burka-Verbot steht. Hierzu zitierte die Sendung den früheren Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky. Der SPD-Politiker, dem der Ruf des "Integrations-Praktikers" schlechthin vorauseilt, räumte zwar sofort ein, dass das operative Ergebnis eines entsprechenden Gesetzes gleich null sei, "doch das Burka-Verbot wäre ein politisches Signal. Das Burka-Verbot zeigt, was bei uns geht, und was wir ächten."
Debatte um Burka-Verbot:Das Gesicht und die Freiheit
Die Regeln, die der Staat sich gibt, müssen nicht auch in der Öffentlichkeit gelten. Warum ein Verbot von Burka und Niqab verfassungsrechtlich fragwürdig wäre.
Was da zu ächten ist, brachte Klöckner durchaus zutreffend zum Ausdruck: "Die Vollverschleierung steht für ein abwertendes Frauenbild - ist eine Entmenschlichung." Sie wolle keinen extremistischen Islam in Deutschland hoffähig machen, indem sie Vollverschleierung zulasse, argumentierte die CDU-Frau. Bei dem Thema weiß sie die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, wie auch der Applaus im Studio belegte: 86 Prozent der Deutschen sind zumindest für ein teilweises Burka-Verbot und sogar 79 Prozent der Grünen-Wähler, wie Plasberg der Grünen Claudia Roth genüsslich hinrieb.
Darf nicht jeder Mensch das anziehen, was er will?
Doch eine solche Ächtung konterkariert gegebenenfalls eben auch andere freiheitliche Werte, die das Grundgesetz schützt. Was ist zum Beispiel, wenn sich eine Frau aus eigenen Stücken dazu entscheidet, den Niqab zu tragen? Darf nicht jeder Mensch das anziehen, was er will? Sie habe viele Musliminnen getroffen, argumentierte Claudia Roth, die ihr gesagt hätten: "Sagt Ihr mir doch nicht, was meine Freiheiten sind."
Und Khola Maryam Hübsch, die selbst mit einem Hidschab in der Runde saß, brachte es auf die knappe Formel: "Freiheit ist, dass ich selber entscheiden kann, was ich trage." Ähnlich argumentierte in der Sendung Monika B., die als gebürtige Österreicherin vor sieben Jahren zum Islam konvertierte und seither den Niqab freiwillig trägt. Am Anfang sei es ihr dabei vor allem darum gegangen, eine klare Grenze zwischen ihrer alten westlichen Lebensweise und der neuen Ethik des Islam zu ziehen. Inzwischen gehe sie damit lockerer um, weil sie eine gewisse Selbstverständlichkeit reingebracht habe.
"Wenn man hier zuhört, denkt man, man sei in Saudi-Arabien"
Es gibt in dieser theoretischen Debatte also zwei Wahrheiten, und glücklicherweise war auch der Publizist Michel Friedman zugegen, denn nur er vermochte in dieser Sendung diese zwei Wirklichkeiten der Burka-Diskussion unter einen Hut zu bringen: "Wenn es freiwillig ist, dann ist es etwas anderes, als wenn es unfreiwillig ist. Wenn dieser Mensch mit mir in Kontakt tritt, möchte ich das Gesicht sehen, auch das ist freiwillig. Und deswegen halte ich auch nichts von Gesetzen, da bin ich ganz klar: Diese Symbolgesetzgebung ist unverhältnismäßig, quantitativ, qualitativ." Aber jedem sei es in einer offenen Gesellschaft ja selbst überlassen, mit dem anderen auszuhandeln, wie er ihm oder ihr begegnen wolle. "Wenn man hier zuhört, denkt man, man sei in Saudi-Arabien. Weit verfehlt."
Es hätte der Sendung gutgetan, wenn sie nach diesem Statement sofort zu Thomas Roth und den Tagesthemen weitergeschaltet hätte. Roth kündigte als großes Thema die Kinderarmut in Deutschland an. Da lässt sich mit neuen Gesetzen ja vermutlich auch mehr bewegen.