TV-Kritik zu "Günther Jauch":"Frau Merkel hat eine große Niederlage erlebt"

In nur zwei Tagen hat Deutschland einen neuen Bundespräsidenten gefunden. Bei Günther Jauch weiß plötzlich niemand mehr, was jemals gegen Joachim Gauck gesprochen haben soll. Andrea Nahles versucht, für die SPD aus der Entscheidung politisches Kapital zu schlagen.

Christopher Pramstaller

Es sind 7,3 Kilometer von der Torgauer Straße 12 in Berlin-Schöneberg bis in die Willy-Brandt-Straße in Mitte. Nur gut 15 Minuten lang dauert die Fahrt mit dem Auto vom Schöneberger Gasometer bis zum Bundeskanzleramt.

Trotzdem war man dort, wo Günther Jauch jeden Sonntagabend versucht, mit seinen politischen Gästen die Befindlichkeiten der Nation zu eruieren, ebenso wenig wie das übrige Deutschland darauf vorbereitet, dass sich nur unweit des TV-Studios zwischen 20 Uhr und 20:30 Uhr die Kanzlerin und CSU-Chef Seehofer einen Ruck geben würden und nach einigem Ringen ihre Zustimmung zu Joachim Gauck als Fast-Allparteien-Kandidat geben würden.

"Wen zaubert Merkel nun aus dem Hut?" sollte das Thema mit den Gästen Wolfgang Bosbach (CDU), Andrea Nahles (SPD), Hildegard Hamm-Brücher (FDP), Heiner Geißler (CDU) und Ulrich Wickert noch um 20 Uhr heißen. Nachdem sich die Union den gesamten Sonntag lang vehement gegen Joachim Gauck ausgesprochen hatte, sollte eigentlich über die anderen Kandidaten wie Klaus Töpfer oder Wolfgang Huber gesprochen werden.

Doch eine halbe Stunde später hat Deutschland mit Gauck plötzlich einen Bundespräsidenten in spe - und die politische Talkrunde bei Jauch zwei Probleme: Wie lässt sich über Politik reden, ohne in parteipolitisches Geplänkel zurückzufallen, nachdem sich die Parteispitzen einig gezeigt hatten wie nie? Und was lässt sich über den kommenden Bundespräsidenten sagen, den nun plötzlich alle schon seit Ewigkeiten in diesem Amt hatten sehen wollen?

Wieso Gauck nicht schon am 30. Juni 2010 zum Bundespräsidenten gewählt worden war, kann sich im Gasometer plötzlich niemand mehr erklären. Wolfgang Bosbach kennt weder das Argument, das 2010 gegen Gauck gesprochen haben soll, noch weiß er zu sagen, was die Union am Sonntagnachmittag an ihm gestört haben soll.

Gauck? Den wollten sie doch schon immer!

Hildegard Hamm-Brücher, die 1994 selbst als Kandidatin gegen den späteren Bundespräsidenten Roman Herzog angetreten war, beteuert: "Wir hätten ja schon vor eineinhalb Jahren gerne Gauck gewählt, aber wir durften nicht." Andrea Nahles betont, dass die SPD "schon vor zwei Jahren die gute Idee hatte".

War Gauck also schon immer der Wunschkandidat aller? Wulff wirkt zu diesem Zeitpunkt wie eine von Merkel aufgezwungene Pflichtwahl, die niemand gewollt habe, bei der das Parteibuch aber das Gewissen ersetzt habe. Doch Wulff war gestern, heute ist der Neue da. "Blicke zurück", so Bosbach, brauche man nicht.

Doch wer ist dieser Joachim Gauck und was ist seine politische Agenda? "Freiheit und Verantwortung" seien seine Themen, meint Heiner Geißler. Wobei sich die SPD doch fragen müsse, wie Gauck es denn mit der Solidarität halte. Und hätte es nicht vielleicht auch ein Klaus Töpfer getan, der die Ökologie als Thema setzen könne? Oder nicht doch auch mal eine Frau? Für Geißler scheint als Einzigem in der Runde die Debatte über die Nachfolge zu schnell abgeschlossen zu sein.

Zu kennen scheint Gauck jeder in der Runde, greifbar wird er nie. Hat er Visionen? Hat er Themen? Wohin geht es mit ihm? Er wird ein Präsident für alle sein, dem man ob seiner Parteilosigkeit und der erhofften Authentizität (Wickert: "Er hat sich nie verstellt.") alles abnimmt. Außerdem sei er jemand, der Politik nicht zum Lohnerwerb betreibe, so der Journalist, sondern etwas bewegen wolle.

"Parteipolitik spielt immer eine Rolle"

Stellt sich noch die Frage: Ist es für Politiker möglich, aus der Festlegung auf Gauck als Bundespräsidenten-Kandidaten kein politisches Kapital schlagen zu wollen? Klare Antwort: Nein. Wie die Talkrunde zeigt. Überparteilich sollte der Kandidat sein. Die Parteispitzen - bis auf jene der Linken, die die Kanzlerin nicht dabei haben wollte - präsentierten sich einhellig neben ihrem Kandidaten. Doch die überparteiliche Lösung scheint in politischen Kreisen lediglich zu bedeuten, dass der Kandidat kein Parteibuch besitzt, man aber dennoch gleich wieder trefflich zu streiten anfangen kann.

Andrea Nahles, Generalsekretärin der SPD, lässt es sich jedenfalls nicht nehmen, mehrfach darauf hinzuweisen, dass die "Bundeskanzlerin umgefallen" sei und "Frau Merkel hier eine große Niederlage erlebt, persönlich und politisch". Und als Hildegard Hamm-Brücher dann doch noch einmal auf Wulff zu sprechen kommt und über einen kritisierenden Brief räsoniert, den sie Wulff geschrieben habe, kann die SPD-Generalsekretärin nicht anders, als hemmungslos zu kichern.

Heiner Geißler verwies darauf, dass "Parteipolitik immer eine Rolle spielt", er das aber "nicht kritisiert", da es "die politische Realität ist".

Am Freitag hatte man bei Günther Jauch in einer Extra-Ausgabe noch über den schnellen Abschied von Christian Wulff aus dem Amt des Bundespräsidenten diskutiert. Stil, Würde, Ansehen, Glaubwürdigkeit hießen die Themen, als Wulffs Abgang im Schnellverfahren diskutiert wurde. Nur zwei Tage später ist im gleichen Studio eine Diskussionsrunde zu beobachten, die sich daran versucht, seinen Nachfolger einzuordnen und ihn als von allen gewollten und nun bitte auch zu akzeptierenden Kandidaten zu installieren.

Womöglich hätte man sich noch ein wenig Zeit nehmen können mit der Entscheidung. Die eilig angefertigte Infratest-Umfrage jedenfalls zeigt zwar eine Zustimmung für Joachim Gauck, Traumwerte sehen aber anders aus. Auf die Frage, ob Gauck eine gute Wahl sei, antworteten 49 Prozent mit Ja, 14 Prozent kannten ihn nicht und 37 Prozent sind (noch) nicht von ihm überzeugt.

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