TV-Kritik: Maybrit Illner:"Komm mir nicht mit der Mehrheit, Cem"

Während Thilo Sarrazin bei Talkerin Maybrit Illner schwer unter Beschuss gerät, freut sich die Runde über die Fortschritte in Sachen Integration. Ein jüdischer Zyniker hält dagegen.

Lena Jakat

Zahllose Journalisten, Meinungsführer und solche, die es werden wollen, werden wohl lange Nächte verbracht haben. Denn sie will ja gelesen sein, Sarrazins Aufregerschrift Deutschland schafft sich ab, und jeder will die 464 Seiten besser gelesen haben als der andere.

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"Retter oder Rassist?", fragte Maybrit Illner gestern im ZDF Richtung Sarrazin. Grünen-Politiker Cem Özdemir suchte darauf eine Antwort - kam aber zu einem anderen Ergebnis als der Publizist Roger Köppel.

(Foto: AFP)

Vermutlich wurde das Werk, das Deutschland mitten im kühlen Sommer eine heiße Debatte verschafft und seinen Autor wahrscheinlich den Job kosten wird, auch der gesamten Mannschaft von Maybrit Illner zur Speed-Lektüre verordnet. Denn die ZDF-Talkerin hatte kurzfristig die Themenplanung umgeworfen und auf den momentanen Republikaufscheucher Sarrazin gedreht.

Die Chancen für eine Sachdebatte standen auch wirklich nicht schlecht - denn anders als bei den Kollegen Reinhold Beckmann und Frank Plasberg (Hart aber fair) saß die Reizfigur Sarrazin bei Illner diesmal nicht mit auf dem Podium. Über Enttäuschung also hätte man diskutieren können, über Integrationsprobleme und Lösungswege, über Identität und Meinungsfreiheit. Hätte. Denn die Diskussion scheiterte immer wieder an ihren Teilnehmern.

Roger Köppel, Chefredakteur der konservativen Schweizer Weltwoche wollte über Meinungsfreiheit sprechen. "Sarrazin wurde diffamiert", so die Ansicht des schmalen Mannes mit den dicken Brillengläsern. "Die Debatte trug Züge einer Hexenjagd." Gibt es tatsächlich Thesen, die die freie Meinungsäußerung einschränken - zu Recht, aus vorauseilendem Gehorsam oder falschem Demokratieverständnis? Eine durchaus diskutierenswerte Frage nach dem ersten, pompösen Akt der Sarrazin-Festspiele. Doch sowohl Köppel selbst als auch Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der Zeit, verhinderten diese Debatte.

Köppel, als er mit fast schon sichtbar erhobenem Zeigefinger die "junge deutsche Demokratie" über "Meinungsäußerungsfreiheit" zu belehren suchte, und Ulrich, als er auf den Vorstoß beleidigt reagierte. Die Meinungsfreiheit in Deutschland habe man sehr wohl "in ihrer vollen Bandbreit" erleben können, gab Ulrich offenbar düpiert zurück. Niemand bezichtigt die Zeit-Führung ungestraft mangelnder Freiheitlichkeit. Ulrich wollte stattdessen über Enttäuschung in der deutschen Bevölkerung über die Langwierigkeit von Integration diskutieren. Auch eine spannende Frage. Aber da wollte irgendwie keiner so richtig mitmachen.

Broders Machismo

Sarrazin treffe einen Nerv, heißt es immer wieder. Er spreche reale Probleme an. Ebendiese Probleme zu analysieren und Lösungswege zu diskutieren, wäre eine dankbare Aufgabe für Illners Gäste gewesen. Stattdessen kramte die iranischstämmige Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan in Statistiken. Sie kritisierte Sarrazin für seine wissenschaftliche Methode, griff seine Aufbereitung von Datensätzen über die Sozialstaatskosten für Migranten an und präsentierte andere Zahlen. Doch auch sie selbst rechnete alsbald auf fragwürdige Weise gegen Sarrazin an - und in die Sozialhilfeempfängerstatistik der Deutschen die Rentenempfänger kurzerhand mit ein. Frühkindliche Bildung, soziale Mischung an Schulen, die Herdprämie - all diese Begriffe fielen in Illners Stuhlkreis, weiterverfolgt wurden sie nicht.

Die Runde lobte die lebendige Debatte und die Fortschritte der Integrationsbemühungen. Eidgenosse Köppel hielt sich da natürlich bedeckt. Henryk M. Broder, deutsch-jüdischer Zyniker und Publizist, hakte in vertraut polemischem Ton in die Debatte ein, spitzte sie zu: "Komm mir nicht mit der Mehrheit, Cem", sagte er etwa in Richtung des Grünen-Vorsitzenden. "Wenn in Frankfurt 300 Flugzeuge problemlos landen, ist das nichts. Aber wenn eines auf dem Kopf landet, ist das eine Nachricht." Und leitete so über zu Ehrenmorden in Deutschland.

Broder labte sich so an seiner eigenen Polemik, dass diese, gepaart mit väterlicher Herablassung (für Özdemir) und altherrenhaften Machismo (für Foroutan) immer wieder mit ihm durchging. Das war bisweilen zwar durchaus von Unterhaltungswert. Die Debatte aber zerstob. Verflachte zusehends, wenn auch nicht wirklich ganz unerwartet.

So bemühte Broder in Replik auf Ulrichs "Brunnenvergifter"-Bild (für den rassistischen Beiklang der Debatte) den "inneren Reichsparteitag" im Hinblick auf Foroutans Rechnereien, Goebbels angebliche Äußerungen über Statistik ("Traue keiner, die du nicht selbst gefälscht hast"). Und entdeckte für Merkels Sarrazin-Schelte gleich noch einmal den Reichspropagandaminister: Die Äußerung, sein Buch sei nicht hilfreich, stamme "von einer Kanzlerin, die nicht gewählt wurde, um literarische Empfehlungen zu geben". So Broder. "Das grenzt an die übelste Tradition der Reichsschriftkammer."

Das nun wieder brachte den Grünen Cem Özdemir in die seltene Situation, für die Kanzlerin in die Bresche springen zu müssen (was Broder sichtlich genoss).

Ein weiteres interessantes Randthema aus der Sarrazin-Debatte schien wie gemacht für diese Runde: Identität. Mit Özdemir, Broder und Foroutan saßen die idealen Gesprächspartner für eine intelligente Diskussion dieser Problematik beisammen - wohl auch, so viel Unterstellung sei erlaubt, nicht rein zufällig, oder allein aufgrund ihrer beruflichen Eignung. Doch vor lauter Political Correctness überschlugen sich die Wissenschaftlerin und der Politiker fast vor Beteuerungen, für alle Deutschen zu sprechen. Keinesfalls für Muslime oder Türken oder Iraner, sondern ausschließlich als kontextfreie Citoyens. Ein bisschen weniger Konformismus hätte möglicherweise spannenden Identitätsdebatten Raum geben können.

Talkerin Illner mag es vielleicht nicht geschafft haben, ihre Gäste zu tiefgreifenden inhaltlichen Diskussionen zu bewegen. Aber die Sendung hat Material in die Luft gepustet, und das reichlich.

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