Süddeutsche Zeitung

TV-Kritik: Sarrazin bei "Hart aber fair":Renn doch nicht immer weg!

Showdown bei Plasberg: Thilo Sarrazin räumt einen "Blackout" ein und drängt Michel Friedman in die Schmollecke. Ein munterer Abend zwischen Unfug, Goethe und einer überraschenden Rechnung.

Alexander Kissler

Die Sarrazin-Festspiele dauern an. Deutschland redet sich die Köpfe heiß über das, was der Bundesbank-Vorstand geschrieben hat oder geschrieben haben soll, was er sagte, was er andeutete und was er eigentlich gemeint haben will.

Für das Fernsehen ist Thilo Sarrazin ein Glücksfall. Er scheint in seiner spröden Umständlichkeit geradewegs einer anderen Welt entsprungen, einer Welt namens Wirklichkeit. Deshalb kann er dem Fernsehen jenes Quantum Unverstelltheit liefern, auf die das Medium versessen ist wie der Braunbär auf den Honig.

Aus demselben Grund aber gelang es Reinhold Beckmann am Montag nicht, den störrischen Sonderling mit fernsehtypischer Einkreisungstaktik mürbe zu reden. Die Empörung aus vielen Mündern perlte an Sarrazins gediegener Langsamkeit ab. "Alle gegen Thilo" war das falsche Motto. Würde Frank Plasberg es besser machen?

Plasberg hatte aus den Fehlern seines ARD-Kollegen gelernt. Auf das mit fünf Teilnehmern kleiner dimensionierte Podium von Hart aber fair war mit dem Historiker Arnulf Baring auch ein Sarrazin-Sympathisant geladen worden. Er durfte neben der Hauptperson Platz nehmen, die ganz außen am linken Rand positioniert war, und wirkte so als therapeutischer Puffer, als Bindeglied und Palliativ zugleich.

Baring lobte Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab in den höchsten Tönen. Zweimal war es ihm eine Gedankenkette aus vier Adjektiven wert: Das Buch sei ein "sehr seriöser, ernsthafter, nachdenklicher, gut belegter Essay". Die Debatte, die es anstoße, nannte Baring "vernünftig, wichtig, zukunftsfähig, dringend".

Wie nämlich halten es die muslimischen Migranten mit Deutschland, wie hält es Deutschland mit ihnen?

Flucht ins Technokratendeutsch

Am anderen Ende der gebogenen Tafel wartete Rudolf Dreßler auf seine Einsätze. Der Hart aber fair-Routinier sollte den klassischen Markenkern der SPD vertreten und dessen Unvereinbarkeit mit Sarrazins neuen Thesen darlegen. Als es aber zum Schwure kam, flüchtete Dreßler ins Technokratendeutsch.

Sarrazins Auffassungen, hob er an und spickte zum Zettel, seien "mit den statuarischen und ideologischen Grundsätzen der Partei nach Auffassung des Parteivorstandes nicht in Einklang zu bringen." Das Parteiordnungsverfahren gehe nun seinen "ordnungsgemäßen Gang".

"Eine Schande für die Bundesbank" - lesen Sie auf der nächsten Seite, was Michel Friedman Thilo Sarrazin entgegenzusetzen hatte.

Laut Parteichef Sigmar Gabriel sollten dabei "begleitende Äußerungen zu diesem Buch" wie jene, alle Juden teilten ein bestimmtes Gen, zentral sein. Trotz Dreßlers hurtig nachgeschobener Empörungsetüde: Besonders unanständig scheint das Buch nicht zu sein, wenn es auf breit ausgetretenen Verfahrenswegen abgehandelt werden kann. Später plädierte Dreßler für das "Gebot", allen Migranten, die der Staat unterstützt, Deutschkenntnisse abzuverlangen.

In der Mitte des Debattentischs stieg die Betriebstemperatur rapide. Dort fiel es den Moderatorenkollegen Asli Sevindim und Michel Friedman schwer, das Schweigeabkommen einzuhalten. Vorab hatte man sich geeinigt, Sarrazin nicht ins Wort zu fallen, ihn, ganz anders als bei Beckmann, ausreden zu lassen. Sobald der Bestsellerautor sprach, vielfach von "also" und "äh" durchsetzt, schwieg das restliche Quartett - meistens.

Der Publizist Friedman, als krawalliger Bescheidwisser unübertroffen, biss sich einmal die Silbe gerade noch vom Mund ab. Was er dann doch von sich gab, war pointiert genug: Sarrazin reduziere Menschen zu Zahlen, das sei "menschenfeindlich und respektlos". Er verlasse "die republikanische Tradition", dass jeder alles erreichen kann, rassistisch sei Sarrazins Gedanke, Kollektive hätten eine gemeinsame genetische Identität, dergleichen stelle "eine Schande für die Bundesbank" dar: "Sie können nicht ganze Gruppen verurteilen und beurteilen."

Leise, doch sehr schnell erwiderte der Angesprochene, "das tue ich nicht". Ja, es sei ein "Riesenunfug" gewesen, den er "extrem bedaure", sich im Zeitungsinterview über die genetische Disposition der Juden zu äußern, eine "inhaltliche Dummheit", ein "Blackout". Aber nein, nie und nirgends argumentiere er im Buch ethnisch oder rassistisch, ihm sei der "kulturelle Hintergrund" jener Migranten wichtig, die sich nachweisbar am schlechtesten integrierten, der Türken und Araber.

Der Islam als Integrationshindernis ist Sarrazins Hauptthema. Darüber aber wollte niemand mit ihm reden.

Stattdessen wurde Friedman zum Anwalt der eigenen Ehre. Doch, rief er retour, Sarrazin schlage auf Ausländer ein, sei ein Brandstifter, verurteile Bevölkerungsgruppen en bloc: "Ich habe das Buch gelesen."

Mit ruckhaft aufgerichtetem Oberkörper und blitzendem Auge gab Sarrazin ein Kontra, mit dem er Friedman in den Schmollwinkel drängte: "Ich habe jetzt mal versuchsweise unterstellt, dass Sie die Wahrheit gesagt und das Buch ganz gelesen haben - wenn Sie es ganz gelesen hätten und das sagen, was Sie gesagt haben, können Sie nicht sehr klug sein."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Asli Sevindim Sarrazin vorwirft

Friedmans blubbernde Replik versuchte er einzufangen: "Aber Sie haben doch Humor!" Es nutzte nichts. Der Publizist gab den Gekränkten, Sarrazin aber den Musterschüler, der am letzten Schultag zum Erstaunen aller mit dem Schwamm nach dem Lehrer geworfen hat und nun nicht weiß, ob er auf sich stolz sein soll.

Die Fernsehmoderatorin Asli Sevindim, vorgestellt als Muster geglückter Integration, hielt Sarrazin entgegen, er biete "keine einzige Lösung" an, "definitiv rassistisch" und beleidigend seien dessen Auffassungen von der vererbten Bildung. Getreu seinem altpreußischen Lebensmotto - "ich renne nie weg, ich schlage keine Haken" - beharrte Sarrazin: Alle menschlichen Eigenschaften hätten auch eine Erbkomponente, "das ist weltweiter Stand der Intelligenzforschung".

Fortan setzte ein ums andere Mal Sevindim ihre Familiengeschichte den Migrationsstatistiken entgegen. "Sie rechnen mich permanent raus", sagte sie schließlich zum Herrn ganz links außen, müde und enttäuscht ob ihrer eintönig gewordenen Einwände.

Dem Moderator war's recht, er ließ es laufen zwischen Renitenz und Resignation, schuf allerdings sinnvolle Zäsuren und war so ein souveräner Lotse durch das Gestrüpp der Abneigungsverhältnisse.

Einmal gelang seiner Redaktion ein Coup. Sarrazins Berechnungen für ein schrumpfendes und islamisiertes Deutschland liegen demnach starre Zuwanderungs- und Geburtenraten zugrunde. Hätte man nach dieser Methode von 1890 auf 2010 hochgerechnet, müssten heute 253 Millionen Menschen in Deutschland leben. Zwei Weltkriege und die Antibabypille, lernten wir, verhinderten den Triumph der Statistik.

Ganz unkriegerisch endeten 75 muntere und erhellende Minuten. Sarrazin rezitierte, ganz im Stile einer Figur von Loriot'schen Gnaden, angespannt und putzig und schalkhaft zugleich, Wandrers Nachtlied von Johann Wolfgang von Goethe. Es hat im Buch, "in meinem Buch" (Sarrazin), eine gewisse Bedeutung: "Über allen Gipfeln ist Ruh."

Uns aber bleibt ein Abgrund: Michel Friedman nämlich fragte den Kontrahenten, als dieser seine Leseintelligenz bezweifelte, woher Sarrazin denn wissen könne, welches Buch er, Friedman, gelesen habe - "oder sind Sie mein Schatten?"

Damit werden wir alle noch eine Weile leben müssen, mit dem Schatten namens Sarrazin.

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