TV-Kritik: Kampusch bei Beckmann:Gefangen in Erinnerungen

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Entführungsopfer Natascha Kampusch hat ein Buch geschrieben, um mit ihrem Martyrium abzuschließen, und redet darüber im TV. Macht es das nicht schlimmer?

Ruth Schneeberger

Das eigentlich Erschreckende ist längst nicht mehr die Tat. Die hat man als Zuschauer inzwischen erfasst, womöglich abgehakt. Kapitel "unfassbar grausame Verbrechen", Absatz "erledigt".

"Ich will die ganze Geschichte loswerden, es ist eine Art Ballastpaket für mich" - bei Reinhold Beckmann spricht Natascha Kampusch über ihre acht Jahre Gefangenschaft im Hause ihres Entführeres Wolfgang Priklopil. (Foto: dpa)

Da mag Reinhold Beckmann bei Natascha Kampuschs erstem Interview im deutschen Fernsehen, etwa vier Jahre nach ihrer Befreiung, am Montagabend in der ARD noch so tonlos Passagen aus ihrem neuen Buch 3096 Tage vorlesen. Der Mann hört sich an wie der sensationsheischende Moderator eines Privatsenders, der berufeshalber Gefühle in Wallung bringen möchte.

Das eigentlich Erschreckende ist inzwischen der Umgang mit der Tat - und vor allem mit dem Opfer. Ein Schuldiger ist nicht mehr vorhanden, der Fernmeldetechniker und Entführer Wolfgang Priklopil hat sich nach Nataschas Flucht das Leben genommen.

Auf wen also stürzt sich die bestürzte Öffentlichkeit? Auf Kampusch selbst. Und bringt sie damit einmal mehr in die Opferrolle, aus der sie sich selbst so tapfer befreit hatte.

Glaubt man ihren Aussagen - und es gibt wenig Grund, daran zu zweifeln -, zerreißen sich die Wiener, in deren beschaulicher Stadt die 22-jährige Österreicherin lebt, das Maul über sie. Wechseln die Straßenseite, misstrauen ihr zutiefst, behandeln sie wie eine, die Schuld auf sich geladen hat.

Die blonde junge Frau im beigen Rollkragenpulli hat noch dasselbe mädchenhafte Gesicht, das damals, frisch den Fängen ihres Peinigers entkommen, so mutig in die Kameras sprach. In 120 Länder sei dieses Interview übertragen worden, weiß ARD-Talker Beckmann anzumerken. Und es war ja auch eine Sensation damals, dass so ein junges Ding sich aus einer solchen Hölle befreit hatte. Dass sie trotz allem so gefestigt wirkte, so stark und nahezu unverletzt.

Doch genau diese Stärke wurde ihr zum Verhängnis. Sie verlängert ihr Leiden: "Für manche Teile der Öffentlichkeit hat sich das so dargestellt, als ob sie gar kein Opfer ist", wird Medienpsychologe Peter Vitouch von der Universität Wien eingeblendet. Er erklärt das Phänomen. "Sie ist zu stabilisiert, kein geschockter Mensch, der Schwierigkeiten hat, sich zu artikulieren. Da ist es natürlich leichter, ihr die Opferrolle abzusprechen."

Bitte keine Fragen nach Sex

Ein Opfer, das wollte Natascha Kampusch eben nie sein. Das hat auch ihrem Entführer nicht gefallen, wie sie nun erzählt: "Er hat sich gewundert, warum ich das alles so mit Fassung nehme. Darüber war er auch unzufrieden am Anfang." Wolfgang Priklopil war unzufrieden, dass dieses kleine blonde Mädchen sich nicht unterkriegen ließ - und Teile der Öffentlichkeit sind es ebenso.

Natascha Kampusch spricht leise, aber noch überlegter als je zuvor. Sie zuckt mit den Augen, muss sich oft räuspern, man merkt nach wie vor, dass sie nicht gerne über die Zeit in dem Verlies spricht. Fragen über eventuelle sexuelle Übergriffe verbittet sie sich.

Wer sie da sitzen sieht, ein wenig schüchtern, sehr kontrolliert, freundlich zurücklächelnd und manches Mal die Augenbrauen ironisch hochziehend, der glaubt ihr, dass sie diese Fragen alle zum hundertsten Mal beantwortet, um irgendwann einmal davon befreit zu sein. Und Gastgeber Beckmann, der eigentlich alle seine Gäste wie Entführungsopfer behandelt, beißt hier mit seiner übergreifenden Art auf Granit.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die Hölle manchmal die anderen sind.

"Mir ist das jetzt egal", sagt sie über die Zweifel, die manche nach wie vor an ihrer Glaubwürdigkeit hegen. "Ich habe jetzt dieses Buch, da steht alles drin. Jetzt kann ich sagen: 'Friss oder stirb!' Es gibt auch keine Möglichkeit, Fragen zu stellen."

Glaub es oder glaub es nicht, möchte die Autorin der Öffentlichkeit mitteilen. Und wenn du es nicht glaubst, dann lass mich wenigstens damit in Ruhe.

Sie sei erleichtert, dass die Ermittlungsarbeiten zu ihrem Fall endlich abgeschlossen seien. Es sei nicht gerade angenehm, der Polizei auch noch bei der Motivfindung behilflich sein zu müssen. Denn sie habe zwar von Anfang an gewusst, dass "der Täter", wie sie ihn durchgehend nennt, ein Mensch mit sehr geringem Selbstbewusstsein gewesen sei, der sich an der Erniedrigung und Versklavung seines Opfers geweidet habe und doch gleichzeitig schier süchtig nach Liebe und Nähe gewesen sei.

Was wirklich und letztendlich in seinem Inneren stattgefunden habe, das könne sie aber auch nicht wissen, sagt Kampusch leicht enerviert. Vor dieser Frage hat sie sich während ihrer Gefangenschaft wohl auch selbst geschützt, indem sie sich in jenen "Ruhezustand" versetzte, "wo irgendwie alles akzeptiert wird, wo man Verständnis für alles aufbringt", und der offenbar immer noch so manchen gegen sie aufbringt.

Selbst ihr Vater habe die Tat nicht fassen können und ihre Mutter verdächtigt, mit der Entführung zu tun zu haben, berichtet die 22-Jährige. Und nun, da sie wieder da sei, könne er es immer noch nicht glauben. Er suche insgeheim noch nach dem zehnjährigen Mädchen, das damals auf dem Nachhauseweg von der Schule verschwunden sei. Sie habe keinen Kontakt mehr zu ihm, sagt Kampusch mit gefasster Stimme.

Die Tragödien in den Familien

Das sei so üblich, bestätigt der Polizeipsychologe, der die Gesprächsrunde zu später Stunde erweitert. Dass Familien an einem solchen Verbrechen auseinanderbrechen, sei noch das Geringste. "Da laufen Tragödien ab, das kann man sich gar nicht vorstellen", so Adolf Gallwitz.

Auch in bis dahin gut funktionierenden Familien würden der Dauerstress und damit einhergehende neurobiologische Veränderungen im Gehirn zu extremen Gefühlsausbrüchen führen. Irgendwann würde man sich gegenseitig die Schuld zuschieben. Alkohol und Drogen seien oft der letzte Ausweg. Hinzu käme, dass Kriminelle mit traumatisierten Eltern verschwundener Kinder böse Spiele trieben und Hoffnungen weckten - ob aus Langeweile oder aus Geldgier. Manch verzweifelte Familie habe dabei schon ihr Hab und Gut verloren.

Von solcherlei Bösartigkeiten am Rande der eigentlichen Verzweiflung kann auch Dagmar Funke ein Liedchen singen. Die mehrfache Mutter vermisst seit 1996 ihre Tochter Deborah, die ebenfalls von der Schule nicht nach Hause gekommen ist - ähnlich wie Natascha Kampusch.

Warum der Staat die Eltern vermisster Kinder nicht besser unterstütze, sowohl psychologisch als auch polizeilich, kann sie nicht verstehen. Der Polizeipsychologe gibt ihr recht: "Das machen andere Länder viel besser. Da steckt mehr Manpower dahinter - und man hegt dort nicht direkt die Angst, es könnte falscher Alarm sein."

Immerhin sieht Funke in Kampusch einen Fall, der sie auch für sich selbst hoffen lässt. Vielleicht lebt ja ihre Tochter Debbie noch. "Eine Mutter spürt so etwas", sagt sie.

Die eigene Unfähigkeit

"Ich kenne keine Eltern, die das nicht von ihrem Kind sagen", entgegnet Psychologe Gallwitz ernüchternd. Und er hat auch eine Antwort für Funke, die ebenfalls nicht versteht, warum sie seitdem auf der Straße von anderen Eltern und Nachbarn gemieden wird: "Das ist oft die Unfähigkeit, Mitleid zu zeigen." Außerdem sei es einfacher, eine Mutter der Kindstötung zu verdächtigen, als eine ungeklärte Geschichte aushalten zu müssen.

So wie es für manche offenbar leichter ist, Natascha Kampusch der Lüge, der Übertreibung oder der Öffentlichkeitsgeilheit zu bezichtigen, als die Wahrheit auszuhalten und ihr den überlebensnotwendigen Trotz und ihren widerspruchsfreudigen Geist zuzugestehen. So traurig das auch ist. Die Hölle, das sind manchmal eben die anderen.

Man kann ihr nur wünschen, dass sie sich mit dem Buch und dem noch ausstehenden Kinofilm über ihr Leben, den der Produzent Bernd Eichinger für 2011 plant, wirklich einen Gefallen getan hat.

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