TV-Kritik: Menschen 2010:Macher des eigenen Mutes

Neuerfindung geglückt: Nach der "Wetten dass..?"-Katastrophe vor einer Woche beweist Thomas Gottschalk im ZDF-Jahresrückblick seine Fähigkeiten als Familienunterhalter.

Rupert Sommer

"Sein Zustand ist unendlich traurig", fasste Christoph Koch, der Vater des am vergangenen Samstag bei Wetten, dass..? schwerverletzten Show-Kandidaten Samuel, die Gefühlslage einer Familie zusammen, deren Schicksal die Nation - und allen voran Fernsehmoderator Thomas Gottschalk - tief bewegt. "Im Moment können wir nicht genau sagen, wie es mit Samuel weitergeht", fuhr Koch im Interview anlässlich der ZDF-Jahresrückblicksendung fort. "Er hat Chancen, und wir haben Hoffnungen, dass er geheilt werden kann."

Mit dem separat vorproduzierten Gespräch, das auf ausdrücklichen Wunsch des Vaters ohne Publikum aufgezeichnet wurde, stieg Thomas Gottschalk wie angekündigt in seiner streckenweise sehr ernst gehaltene Menschen 2010-Sendung ein. Und die kreiste naturgemäß trotz aller anwesenden und zugeschalteten "Lichtgestalten" wie Karl-Theodor zu Guttenberg oder Michael Schumacher, immer wieder um zwei Personen: den wagemutigen 23-Jährigen, der mit Federstelzen über ein ausgerechnet von seinem eigenen Vater gelenktes Fahrzeug springen wollte und verunglückte, und den mittlerweile 60-jährigen Moderator, der sich mit der ersten posttraumatischen Show auf Neuland wagte und als Familienunterhalter neu erfinden muss. Wie sein Unterhaltungschef Manfred Teubner, mit dem er zudem eng befreundet ist, bestätigte, zögerte Gottschalk im Vorfeld länger, ob er die Sendung machen sollte. Dass er dennoch antrat - und ihm der heikle Spagat zwischen Ernst und Augenzwinkern gut gelang -, dürfte ihm wichtige Sympathiepunkte einbringen und auch selbst neuen Mut machen.

"Was wir in diesen letzten Tagen an persönlicher Zuneigung, an Herzlichkeit von anderen Menschen, von Freunden von Samuel, erlebt haben", berichtete Christoph Koch, "das hat uns geholfen über diese Tage, diese eine Woche zu überstehen." Mit allzu konkreten Aussagen darüber, wie es um den Gesundheitszustand seines Sohnes steht, hielt er sich bewusst zurück - auch, um sich vor der Wirkung von Rückschlägen zu schützen. "Samuels Zustand, körperlich, sieht so aus, dass er im Bett liegen muss, sich nicht bewegen kann, und oben am Hals und Kopf sich auch nicht bewegen darf", so der erschöpfte, aber um Fassung bemühte Mann. "Im Moment planen wir von Halbtag zu Halbtag", sagte er im Gespräch.

Wie mittlerweile bestätigt ist, wird Samuel seit Samstag nicht mehr in der Düsseldorfer Uniklinik, sondern in einer Schweizer Reha-Klinik weiterbehandelt. "Mit Sicherheit wird es ein monatelanger Prozess, bis Heilung sichtbar wird", sagte Vater Koch zu Thomas Gottschalk und bedankte sich bei dem ZDF-Moderator auch für die Nachbetreuung der Familie nach dem Schicksalsschlag. Selbst der heiklen Tatsache, dass sich der Unfall vor einem Publikum von mehr als acht Millionen Zuschauern ereignete, kann der Vater im Rückblick Gutes abgewinnen. "Das ist für uns ein Glücksfall gewesen", sagte er. "So verrückt es klingen mag, dass das in der Livesendung vor Ort passiert ist, wo alle Ärzte direkt richtig reagiert haben."

Gottschalk konnte nach diesem programmatischen Eingangsgespräch, übrigens der bislang einzigen Presse-Äußerung der Familie nach dem Unfall, nicht leicht zur Tagesordnung und den flapsigen Sprüchen übergehen. Dennoch gönnte er sich als ersten real anwesenden Gast seiner Gala-Sendung einen dankbaren Aufbau-Gesprächspartner - seinen oberfränkischen Landsmann Karl-Theoder zu Guttenberg. Weil der fesche Freiherr neben seinen vielen öffentlichen Repräsentationsaufgaben bekanntlich auch Verteidigungsminister ist, legt sich Gottschalk selbst nahezu staatstragende Dezenz auf. Er kündigte an, Guttenberg zu siezen - und hielt das bis kurz vor Ende des Gesprächs auch beinahe durch.

Vermutlich ohne allzu sehr an die eigene TV-Endlichkeit zu denken, erinnerte er den omnipräsenten Polit-Shootingstar daran, dass die "Hoffnungsträger von heute die Sündenböcke von morgen sein könnten" und verdeutlichte seinem Publikum die Drastik von Höhenflug und Popularitätsabsturz mit einem eindrucksvollen Beispiel: Gottschalk erinnerte Guttenberg daran, dass vor exakt zwölf Monaten mit Guido Westerwelle der damalige Jahresgewinner auf demselben Show-Sofa saß. Dieses Jahr "musste er sogar im Jahresrückblick von RTL auftreten", witzelte der ZDF-Mann.

Bezeichnenderweise war das nicht die einzige Spitze gegen die Kölner Privat-TV-Konkurrenz. Schon beim Anwärmen des Publikums im TV-Studio in München-Grünwald, für das Gottschalk selbst vor Beginn der Aufzeichnung vor den Vorhang trat, warnte er zwar, dass die folgende Sendung fast so lang wie das gesamte Jahr dauern könne. "Aber im Gegensatz zu Günther Jauch kann ich euch wenigstens Frau Katzenberger ersparen", stichelte er. Der RTL-Vorzeigemoderator hatte die umtriebige Silikonblondine in den eigenen Jahresrückblick gehievt.

Karl-Theodor zu Guttenberg wiederum konnte sich eine charmante Breitseite auf Gottschalk nicht verkneifen. Angesprochen auf die vermeintliche diplomatische Sprengkraft der Wikileaks-Veröffentlichungen stach der Profi-Talker mit einem versteckt geführten Florett zurück. "Wir sind auch ohnehin schon so geschwätzig in unserem Job, lieber Herr Gottschalk, dass es Wikileaks nicht bedurft hätte", sagte er - und schaute der blonden Profi-Plaudertasche tief in die Augen. Gottschalk tat die Frotzelei sichtlich gut - prompt war er gegenüber Guttenberg wieder beim "Du".

Schlagabtausch und Tête-à-Tête auf dem Sofa

Vollständig zur alten Souveränität und zur liebgewonnenen Schnoddrigkeit zurückgekehrt war die Galionsfigur des Mainzer Senders allerdings erst bei einem der eher stillen Höhepunkte einer kunterbunten Show, die wie bei den TV-Rückblicken üblich allzu vieles hart durchhecheln musste (Klimakatastrophen, Bahnhofsdemos, Vuvuzelas, Lena und einen Walangriff auf ein südafrikanisches Segelboot). Sein immer noch beeindruckendes Plaudertalent spielte er perfekt aus, als Gottschalk sich einen Lieblingsgast aufs Sofa setzte: die in vielerlei Hinsicht spätberufene Wiener Schriftstellerin Elfriede Vavrik, die mit ihrer offenen Erotik-Beichte Nacktbadestrand Furore machte.

Aufzeichnung der ZDF-Sendung 'Menschen 2010'

Eine Woche nach dem tragischen Unfall bei Wetten dass..? präsentierte Thomas Gottschalk bei seinem Mainzer Heimatsender die Sendung Menschen 2010.

(Foto: dpa)

Die Frau, die nach gescheiterten Ehen und freudlosem Liebesleben nach eigenem Bekunden erst mit 79 Jahren ihren ersten Orgasmus erleben durfte ("40 Jahre ohne Sex - es ist so schad' um die Zeit"), lebte nicht nur als amouröse Abenteurerin, sondern vor allem an der Seite des Schwiegermutterlieblings merklich auf. Ohne auch nur ein einziges Mal wirklich anzüglich zu werden, kreisten beide im Gespräch um allerlei Dinge, die nun wirklich nicht für Kinderohren geeignet sind - und blieben immer im sicheren Sektor der Anspielungen. "Sex - das durfte man ja nicht einmal in den Mund nehmen", sagte Vavrik etwa über ihre prüde Vorprägung. "Zum Beispiel", sekundierte Gottschalk und hatte die Lacher auf seiner Seite.

Naturgemäß besonders pointendicht war schließlich der Sofa-Schlagabtausch, als Gottschalk die im WM-Jahr unvermeidlichen Kickerexperten Günter Netzer und Gerhard Delling von der ARD sowie Katrin Müller-Hohenstein und Oliver Kahn an seiner Seite hatte. Gottschalk brach gleich zu Beginn das Eis mit einer Beichte, die ihm sonst sicher der strenge Pointen-Dribbler Netzer abgenommen hätte. "Ich gebe zu, ich verstehe wenig vom Fußball", räumte der ZDF-Moderator offen ein - um dann doch die Dinger routiniert reinzumachen. Einen besonders gedrechselten Wortfluss vom ZDF-Experten Kahn konterte Gottschalk trocken mit dem verzeihlichen Verbal-Foul: "Ich hätte früher nie gedacht, dass du so einen langen Satz sagen kannst."

Dafür musste er selbst beim Angriff auf Netzer einstecken. Der wies nämlich alle Fragen, die sich nicht um Fußball drehten, entschlossen zurück. "Ich rede am Liebsten darüber, worüber ich etwas verstehe", sagte er. Gottschalk musste die Steilvorlage aufnehmen und den kritischen Treffer verwandeln. "Darin unterscheiden wir uns grundsätzlich", gestand er scherzend ein - und ging noch weiter. Von Comeback-Plänen hält der ARD-Analyst und ehemalige Borussia-Mönchengladbach-Spielmacher Netzer, der nach der Fußball-WM seinen Experten-Job vor den Kameras beendete, nämlich nichts. Ganz im Gegenteil ist er besonders stolz, auf dem Zenit seiner Karriere abgetreten zu sein, da er keineswegs wollte, dass man ihn eines Tages mit dem Lasso von der Bühne holt. Gottschalk verstand auch diese Spitze. "Schau doch jetzt bitte den Delling an und nicht mich", flehte er den Rücktrittsprofi Netzer an.

Nicht der einzige Moment in der Sendung, in der Gottschalk indirekt durchblicken ließ, dass ihn die Kritik an dem unheilvollen Wetten, dass..?-Zwischenfall und die offenen Spekulationen darüber, was sich in der ZDF-Unterhaltung alles ändern muss, nicht kalt lässt. Als er den Schalter wieder einmal auf Ernst umlegen musste und im Gespräch mit einem Loveparade-Überlebenden und der NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft wieder sehr nachdenklich und ruhig wurde, gestand er ein, dass ihn das jähe Umschlagen hart traf - damals vor den Bildern aus Duisburg wie in der Düsseldorfer Show-Halle. "Man erschrickt ja vor der eigenen Gutgläubigkeit", sagte Gottschalk im Rückblick.

Die Frage, ob und wie man in Würde weitermachen kann, schwebte dann auch über dem Tête-à-Tête, das sich der Entertainer mit zwei großen Jubilaren des Jahres 2010 gönnte - mit Iris Berben, die 2010 ihren 60. feierte und dies sich fast nicht anmerken lässt, und dem 80-jährigen TV-Patriarchen Mario Adorf. Von Letzterem bekam Gottschalk einen Satz zu hören, der ihn nachdenklich stimmen sollte. "Es ist ein bisschen wie mit der Schallmauer", sagte der Schauspieler. "Alle anderen hören den Knall, nur du bist schon weiter." Gottschalk nickte und versprach, sich die Sentenz zu merken - spätestens jedenfalls für seinen eigenen 80.

Latent doppeldeutigen Charakter hatte zudem die Begegnung mit dem Ex-Minenarbeiter Edison Peña, der in der spektakulärsten Rettungsaktion des Jahres aus dem chilenischen Unglücksbergwerk geborgen worden war. Im Verlies unter Tage machte Peña gute Miene zum bösen Schicksal und trainierte hart für einen Marathon, den er - wieder an der Oberfläche - auch tatsächlich absolvierte. Als Stimmungkanone half er dabei, die Moral unter den Kumpels aufrechtzuerhalten. "Der wirkte lustiger als ich im Fernsehen", gestand Gottschalk nicht ohne Koketterie ein - und leitete unaufgeregt weiter zu einer putzigen Hundenummer.

Ausgerechnet ein Landsmann, der mit Peña außer seinem chilenischen Pass wenig gemein hatte, sorgte für den Schenkelklopfer-Moment des Abends. José Augusto Fuentes erlangte über Internet-Videoschnipsel weltweite Berühmtheit - als Tanzpartner eines musikalischen Hundes. Gekleidet in ein schwarz-rot-goldenes Vierbeiner-Abendkleid hoppelte der tierische Entertainer auf den Hinterpfoten über die Showbühne und rührte das Publikum - ganz ohne Nervenkitzel. Gut möglich, dass ausgerechnet Menschen 2010 hier schon die Richtung für Wetten, dass..? 2011 vorgab. Gottschalk jedenfalls grinste entspannt.

Einen seiner intimsten Herzenspläne fürs nächste Jahr verriet Gottschalk übrigens seiner Sofa-Freundin Iris Berben. Mit ihr möchte er in Berlin einmal um die Häuser ziehen. "Da gehen wir endlich mal aus miteinander", schwärmte er, "In unserem Alter verdächtigt uns keiner mehr." Und trotzdem: Der wichtigste Wunsch des Abends galt selbstverständlich Samuel Koch, den der Moderator dessen Vater mit auf dem Weg gab. "Mein persönliches Interesse wird auf jeden Fall bei euch bleiben", sagte Thomas Gottschalk. "Wir lassen euch da nicht alleine." Und in diesem Moment war Familienunterhaltung wieder eine Angelegenheit für die ganze Familie.

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