Süddeutsche Zeitung

TV-Kritik zu "Maybrit Illner":Verdamp langes Hin und Her

Bei der Frage um das Impfgezauder verliert die Runde bei "Maybrit Illner" schnell ihre Schärfe. Aber die müde Einigkeit wirkt mit einem besänftigten Boris Palmer und dem rheinisch-ruhigen Wolfgang Niedecken erstaunlich wohltuend.

Von Marlene Knobloch

In welche Richtung man jetzt atmen soll, weiß keiner so recht. Auf? Ein? Aus? Durch? Maybrit Illner schließt mit ihrer Zauder-Frage "Hoffnung mit Risiko - Impfen ohne Vertrauen?" direkt an Jens Spahns Verkündung an, dass der Impfstopp für Astra Zeneca ab Freitag aufgehoben ist. Doch für Euphorie fehlt die Luft.

Und das obwohl anfangs noch Polterer Boris Palmer live aus seinem Silicon Valley Tübingen zugeschaltet ist und im Hintergrund der dynamischen Kopfsteinpflasterstraßen die Causa Astra Zeneca mit einem Dreiklang des Versagens abwatscht: Erst zu spät zugelassen, dann für die falschen, nämlich die Jüngeren, und zuletzt auch noch unterbrochen. Und holt noch mal von ganz weit hinten aus: "Warum haben wir Deutschen bisher immer die falschen Entscheidungen getroffen?"

Illner nennt ihn mehrmals versehentlich "Herr Tübingen" und wie er da vor den Fachwerkhäusern sitzt, hinter deren Mauern die neuesten Innovationen aus dem Neckartal brodeln, braucht es für diesen Versprecher keine freudsche Interpretation mehr. An allem, das weiß Herr Tübingen, sind "wir Deutschen mit unserer Sicherheitskultur" Schuld, er lobt die britische "trial and error"-Mentalität, die auf keine vollständigen Formulare warte, sondern einfach ausprobiert.

Der flotte Wind aus Baden-Württemberg lässt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller erst mal den Kopf schütteln, dann rettet er sich in den Nebel der Selbstverteidigung: "Wir haben durchaus nachvollziehbare Entscheidungen getroffen." Zum Glück holt ihn da Illner schnell raus, indem sie die Instanz Markus Söder zitiert, denn sogar "er hätte Astra weiter verimpft, selbst wenn es durch die EMA nicht zugelassen wäre".

Aber auch Frank Ulrich Montgomery, Weltärztepräsident, verteidigt die Vorsicht, mit der sich Deutschland verhält. Notfallzulassungen wie in Großbritannien hätten das allgemeine Misstrauen der Bevölkerung gestärkt. Als dann niemand Palmers neuester Idee widerspricht, noch nicht zugelassene Impfstoffe wie von Curevac an diejenigen zu verimpfen, die auch mit einer Notfallzulassung einverstanden wären so wie er selbst, kehrt allmählich die heitere Einigkeit ins Studio und mit ihr auf einem zweiten Bildschirm der BAP-Sänger Wolfgang Niedecken.

Außer, dass Wolfgang Niedecken sich bald impfen lassen will, erschließt sich nicht unbedingt sofort, warum er in die Sendung eingeladen wurde. In schwarzer Lederjacke mit dem nächtlichen Rhein im Hintergrund erzählt er von seinem letzten Konzert, das mit August 2019, ja, "verdamp lang her" ist. Aber als er von seinem Plan spricht, erst mal 69 zu bleiben, bis alle geimpft sind, und erst dann 70 zu werden, wenn er in der Kölnarena vor Tausenden immunen Zuschauern spielen kann, vergeht die allgemeine Lust an der Dissonanz.

Harmonisch beteuern alle, dass Arztpraxen jetzt impfen sollten. Und pflichten Birgid Puhl aus Hamburg bei, die mit geduldiger Hausarzt-Freundlichkeit daran erinnert, dass Hausärzte ihre Patienten schon immer impfen. "Wir wären alle sehr, sehr dankbar, wenn das ohne große bürokratische Hürden funktioniert."

Trotz schwappender dritter Welle, Zeitverlust, Impfstoffmangel - gegen Ende schleicht sich Zuversicht in die Runde. Montgomery, angetan von Palmers neuestem Modellprojekt mit Tagesausweisen und Schnelltests, verabredet sich zum Ostereiersammeln in Tübingen. Und der Studiostimmung anschließend rät Illner zum Schluss: "Bleiben Sie heiter."

Wobei ihre Wortwahl für manchen Zuschauer vielleicht doch etwas zu optimistisch sein dürfte.

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