TV-Kritik: Hegemann bei Harald Schmidt:Schulmädchen-Report

"Dirty Harry" auf Kuschelkurs: ARD-Moderator Harald Schmidt umschmeichelt Skandal-Autorin Helene Hegemann.

Ruth Schneeberger

Je mehr Einzelheiten man über den Erfolgsroman Axolotl Roadkill und Jungautorin Helene Hegemann erfährt, desto überraschender erscheint es, dass das Buch erst jetzt für Aufsehen sorgt.

Helene Hegemann, dpa

Jungautorin Helene Hegemann zu Gast bei Harald Schmidt: Diese Kombination versprach einen spannenden Fernsehabend - doch "Dirty Harry" war auf Kuschelkurs.

(Foto: Foto: dpa)

"Mir bereitet es keine Schwierigkeiten, dabei zuzusehen, wie einer Sechsjährigen bei vollem Bewusstsein gleichzeitig mit kochendem Schwefel die Netzhaut ausgebrannt und irgendein Schwanz in den Arsch gerammt wird, und danach verblutet sie halt mit weit geöffneten Augen auf einem Parkplatz." Aus solchen und ähnlichen Sätzen besteht der meistgelobte deutsche Roman der jüngsten Gegenwart. Da fragt sich der unbedarfte Nach-Leser, wie es zur allgemeinen Lobhudelei kam.

Inzwischen ist klar, dass ganze Textpassagen nicht von Fräulein Hegemann stammen, sondern von einem Blogger aus Berlin namens Airen. Erst entschuldigte sich die Jungautorin ("total gedankenlos und egoistisch") dafür und dann gab ihr Verlag am Donnerstag bekannt, die Rechte an strittigen Textpassagen nachträglich gekauft zu haben.

Ein Abend des Kuschelns

Es gehe, so Hegemann nun wieder viel selbstsicherer, "nicht um Plagiarismus, sondern um Intertextualität - ein Arbeitsverfahren, das sehr viele Künstler benutzen."

Am selben Tag wird sie für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Es hätte also spannend werden können, wenn Harald Schmidt, sonst kein Kind übertriebener Zurückhaltung, die 17-Jährige in seinem Late-Night-Talk zu den aktuellen Ereignissen befragt. Aber leider war "Dirty Harry" in dieser Nacht in der ARD bedingungslos zum Kuscheln aufgelegt.

"War dein Vater der Blogger?", machte Schmidt gleich zu Beginn deutlich, dass diesem Roman wenig Besseres passieren konnte als ein kleiner Skandal - um so in den Verkaufslisten noch höher zu klettern. Zuvor hatte der Late-Night-Talker durch einen kleinen Sketch mit seinem Assistenten, der als Blogger "Ayran" - aber, so Schmidt, "ohne Migrationshintergrund" - auftrat, dessen Seriosität in Frage gestellt.

Und schließlich machte er sich noch mit Helene Hegemann zusammen über die Journalisten lustig, die "ständig über ihr Haar" berichten würden, während sich die Jungautorin ganz automatisch durchs Haar fuhr - und zwar ohne Unterlass.

Sie sei "wahnsinnig intelligent und eloquent", betonte der Moderator mehrfach. Vielleicht, damit sie selbst nicht so viel stammeln musste - denn wenn sie redete, hatte man einen ganz anderen Eindruck: Dass da ein ziemlich nervöser Teenager sitzt, und zwar ein sehr typischer, der so gar nicht aus der Masse der Gleichaltrigen herausragt.

Die 17-Jährige kam ins Stocken bei der Frage nach dem Berliner Klub Berghain, der im Buch eine zentrale Rolle spielt, verhedderte sich bei der Antwort nach einzelnen Inhalten und musste schließlich auch bei der Frage nach dem Philosophen Giorgio Agamben passen, der in Axolotl Roadkill erwähnt wird.

Lesen Sie auf Seite 2, wie sich Helene Hegemann bei Harald Schmidt selbst diskreditierte.

Harry raspelt Süßholz

Immerhin hatte sie eine passende Antwort parat, als Harald Schmidt - allerdings eher ironisch - einwarf: "Also, Sperma, Pisse, Arschfick, Gleitcreme auf 'nem Kackehaufen nach drei Tagen. Ich bin ja wirklich schon lange beim Fernsehen - trotzdem frage ich mich: Muss das denn sein?"

Hegemann: "Nein, das muss wirklich nicht sein, ich weiß ja auch nicht."

Harry raspelt Süßholz

Ob es eine Rolle spielt, dass ihr Roman vorab schon so erfolgreich gelobt und verkauft wurde? Oder dass ihr Vater der Berliner Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann ist? Deshalb konnte sich Schmidt ganz prima mit Hegemann über Theater und Volksbühne unterhalten.

Oder hat den Ergrauten ob der Schulmädchenhaftigkeit seines Gastes gar eine perfide Beißhemmung befallen? Helene Hegemann jedenfalls wurde hier im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eher beworben als ernstlich befragt. Schmidt war alles andere als "Dirty Harry", sondern präsentierte sich als eine Art Süßstoff-Händler.

Blieb der Jungautorin die Zeit, sich selbst ein wenig zu diskreditieren - indem sie zunächst betonte, ihr Alter spiele keinerlei Rolle, sie selbst würde auch niemanden nach dem Alter fragen - um kurz darauf zu wettern, es sei moralisch fragwürdig, wie manche Kritiker nun in der Öffentlichkeit mit einer 17-Jährigen umsprängen.

Immerhin passte der Auftritt bei Harald Schmidt zu den Ungereimtheiten, mit denen die Allgemeinheit sich noch eine Zeit lang befassen wird. Bis die nächste Autorin vor der Türe stehen wird, die "ungeahnte" Einblicke in ihr oder anderer Leute Intimleben gewährt, der nächste Star eines ausgebluteten Gewerbes.

Harald Schmidt indes sieht Helene Hegemann schon als nächste Literatur-Nobelpreisträgerin. Das ist ja auch das Mindeste.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: