"Das wird man nie schaffen, dass man es allen recht machen kann", eröffnete Daniel Bahr von der FDP als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium am Mittwochabend Plasbergs Antwortenrunde in der Sendung Hart aber fair. Das Thema: "Patient zahlt, Lobby strahlt - Wer stoppt den Selbstbedienungsladen Gesundheitssystem?" Um es vorab zu verraten: Die eigentlich interessante Frage wurde nicht beantwortet, ja nicht einmal behandelt. Höchstens indirekt - und dann muss die Antwort lauten: Niemand.
Aber beginnen wir von vorne: An diesem Donnerstag wird im Bundestag über die umstrittene Gesundheitsreform des Bundesgesundheitsministers Philipp Rösler beraten. Also nutzte die Runde den Vorabend in der ARD, schnell noch öffentlichkeitswirksam darüber zu streiten.
Das deutsche Gesundheitssystem in seiner jetzigen Form sei absolut verkorkst - darin waren sich die Talkshow-Teilnehmer wenigstens einig. Ausgesprochen hat diese traurige Wahrheit der Arzt in der Runde, Arno Theilmeier, niedergelassener und Facharzt für Innere Medizin aus Mönchengladbach - und es wollte ihm niemand widersprechen. Weder der FDP-Mann, noch SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, noch der Wissenschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung, Werner Bartens, und nicht einmal Norbert Gerbsch als Vertreter des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie.
Höchste Zeit also für eine Gesundheitsreform - allerdings nicht "im Schweinsgalopp", wie Bartens dem FDP-Politiker vorwarf. Und vor allem nicht schon wieder und alleine auf Kosten der Patienten:
Sozialverbände laufen Sturm, seit bekannt wurde, dass der Patient in Zukunft der Dumme sein soll: Der Arbeitgeberanteil soll auf einem Anteil von 7,3 Prozent eingefroren werden, der Arbeitnehmeranteil hingegen auf 8,2 Prozent seines Einkommens steigen. Steigende Gesundheitskosten soll der Versicherte von 2012 an alleine schultern - über eine von den Kassen selbst festgelegte Pauschale, unabhängig vom Einkommen. Gut- und Geringverdiener zahlen dabei gleich viel. Ein Sozialausgleich ist vorgesehen, aber stark umstritten. Dass chronisch Kranke, Behinderte und Alte unter dem wachsenden Konkurrenzkampf der Krankenkassen und zusätzlich steigenden Kosten noch weiter benachteiligt würden, und dass es dazu keinen Ausgleich gibt, so weit reichen die Überlegungen der Bundesregierung noch nicht.
Doch die Runde plauderte lieber über ein noch komplexeres Thema - die Einführung neuer Arzneimittel. Ein Einspielfilm zeigte in aller Kürze, was nun geplant ist. Anstelle der bisherigen Praxis, dass Pharmahersteller den Prüfstellen nachweisen müssen, wie gut ihre neu auf den Markt gebrachten Medikamente wirken, soll die Beweislast nun umgekehrt werden: Um ein nutzloses Medikament vom Markt nehmen zu können, müssen die unabhängigen Prüfstellen künftig dem Hersteller nachweisen, dass ein Medikament nicht wirke. Die hellsichtige Kritik des Einspielers: Niemand könne nachweisen, dass etwas nicht wirke. Das sei wie mit dem berühmten rosa Elefanten, von dem auch niemand beweisen könne, dass er nicht irgendwo auf der Welt existiere.
Das Fazit: Krankenkassen zahlen womöglich nun Milliarden von Euro an die Pharmafirmen für ein Medikament, das nutzlos ist. Und das nur auf den Markt gebracht wurde, um Geld daran zu verdienen. "Wir waren empört, zu sehen, wie eng hier Pharmalobby und Regierung zusammengearbeitet haben, um die Beweislast umzukehren", so Oppositionspolitikerin Nahles. Die FDP habe die Wünsche der Pharmaindustrie "ja fast abgeschrieben". Da meldete sich dann doch mal der Pharmavertreter zu Wort: Es sei nicht der Patient oder die Politik, die hier Kröten zu schlucken habe, sondern die Pharmaindustrie, und zwar in Milliardenhöhe. "Wir sind die Pharmaindustrie, nicht die Harakiri-Industrie", wehrte er sich gegen den Eindruck, von allen zum Sündenbock gemacht zu werden.
Was die steigenden Arzneimittelkosten angeht, konnte Norbert Gerbsch aber die Frage, warum ein- und dasselbe Medikament in Schweden oder Dänemark um mehr als 50 Prozent günstiger angeboten wird, im Endeffekt nur mit einer erhöhten Mehrwertsteuer erklären. Was Frank Plasberg nicht so recht überzeugen konnte. "Deutschland war mal die Apotheke der Welt. Jetzt ist es die Medikamentenmüllkippe der Welt", sieht Bartens die deutsche Volkswirtschaft als Spielball der Pharmaindustrie - auf Kosten des Gesundheitssystems.
Für den Patienten selbst interessanter ist aber ein bisher wenig beachteter Passus des Reformpakets, der den zweiten Teil der Sendung einnahm: Geht es nach dem Bundesgesundheitsminister, gehen demnächst auch die Kassenpatienten in Vorleistung gegenüber ihrer Kasse. Wie Privatversicherte sollen sie in Zukunft Vorauskasse leisten für alle Rechnungen, um sie später von der Krankenkasse ersetzt zu bekommen. Das hört sich bei den aufstrebenden jungen FDP-Politikern wunderbar an: Von "mehr Transparenz" ist die Rede und davon, dass alles ganz einfach wäre. Ist es aber leider gar nicht - das Gegenteil ist der Fall, wie wiederum ein Einspielfilm demonstrieren musste:
Eine Seniorin, die sich wegen grünem Star einer Augenbehandlung unterziehen musste, ging mit mehr als 400 Euro für die Arztrechnung in Vorauszahlung gegenüber ihrer Kasse. Erstattet bekam sie: 72 Euro. Weil der Arzt nach privatärztlichen Maßstäben ein Vielfaches abgerechnet hatte, die Kasse aber nur angehalten ist, den kassenärztlichen Satz zu erstatten. Auf den Mehrkosten bleibt die Patientin sitzen.
Das mögen für den Leistungsträger, den die FDP offenbar vor Augen hat, Peanuts sein, wenn er zweimal im Jahr sein Antibiotikum zu zwei Dritteln selbst zahlen muss und ansonsten jung und gesund ist, wie sich das gehört.
Chronisch Kranke aber oder beispielsweise schwere Pflegefälle, die zum jetzigen Zeitpunkt schon, sobald sie privat versichert sind, Tausende Euro im Monat für Medikamente und Behandlungen im Voraus zahlen müssen, und sich nur einen Bruchteil der Kosten von der Kranken- und Pflegekasse zurückerkämpfen können, solange sie überhaupt noch selbst dazu in der Lage sind und nicht Angehörige mit einem absolut unübersichtlichen Wust von Paragraphen und Bürokratie belasten müssen, die können über solche Vorschläge nicht mal mehr lachen.
Dies sei ja nur eine freiwillige Option für gesetzlich Versicherte, beeilte sich Daniel Bahr zu erklären. Doch Andrea Nahles warf ihm vor, einen "Systemwechsel" in Richtung Vorauskasse voranzutreiben.
Was das bedeuten würde, davon vermittelte Theilmeier eine Ahnung, als er aus seiner Arztpraxis berichtete, in der er sich Kassenpatienten nur leisten könne, weil genügend Privatpatienten die erhöhten Rechnungen zahlen würden. Und wenn sich Kassenpatienten die Rechnungen dank Vorauskasse bald nicht mehr leisten können? Bricht die Versorgung der Kassenpatienten und wirklich kranken Privatpatienten zusammen, und nur noch gesunde Reiche bekommen einen Termin beim Arzt?
Womöglich sollte sich die Weltgesundheitsorganisation um dieses deutsche Problem kümmern. Deren Definition von Gesundheit ist nämlich "ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen". Wo man bei dieser Gesundheitsreform das Stichwort "sozial" genau findet, das könnten, das müssten Daniel Bahr und Philipp Rösler ihr dann noch mal erklären.
"Kritik hat es bislang an jeder Gesundheitsreform gegeben. Doch dieses Mal kommen die Klagen aus allen Richtungen. Das zeigt doch, dass unsere Politik sehr wohl gerecht ist." Mit diesem Zitat ließ sich Daniel Bahr auf der Hart-aber-fair-Homepage ankündigen. Schon klar, wenn alle mit etwas unzufrieden sind, muss es gut sein. Das ist dann wohl die neue Regierungs-Logik.