TV-Kritik: Ernst Reuter:Die mächtigste Stimme in der Stadt

SPD-Politiker, Berlins Oberbürgermeister und ein großer Redner: Die ARD würdigt Ernst Reuter in einer Dokumentation.

Franziska Augstein

Als Ernst Reuter 1948 die "Völker der Welt" anrief: "Schaut auf diese Stadt", schaute die Welt zuerst auf ihn, den SPD-Politiker und großen Redner, der die Alliierten antrieb, die Blockade Berlins nicht einfach hinzunehmen. Die meisten West-Berliner Sozialdemokraten waren damals stramme Antikommunisten: Dass der ostdeutsche Flügel ihrer Partei genötigtermaßen in der SED untergegangen war, schmerzte sie bis zum Hass. Ernst Reuter war die wohl mächtigste Stimme des Kalten Krieges in der Stadt.

Vielleicht hätten die Amerikaner die Rosinenbomber auch ohne Reuters "Schaut-auf-diese-Stadt"-Rede geschickt - nachdem er vor 300 000 Leuten gesprochen hatte, konnten sie nicht mehr anders. Mit dieser Rede beginnt Jan Peters und Yury Winterbergs Filmporträt Ein zerrissenes Leben. Der Film ist voll Sympathie, ist eine Hommage, ein Blumenstrauß für Ernst Reuter.

Schön wäre es gewesen, wenn die Filmemacher Reuters Lebenszweige etwas weniger augenfällig für das "45-Minuten-Format" zurechtgeschnitten hätten. Ihr Blumenstrauß ist etwas konventionell. Da ist nichts "zerrissen", sondern alles adrett zusammengebunden. Ein bisschen liegt das am Drehbuch, ein wenig auch an den befragten Historikern, die nicht alle gut zu erzählen vermögen. Vielleicht liegt es auch daran, dass Reuter für 45 Minuten einfach zu viel mitgemacht hat?

Das Leben, das er hinter sich hatte, als er die "Völker der Welt" ansprach, hätte einen Menschen von schwächerem Gemüt und matterer Überzeugung verstummen lassen: Dass der 1889 geborene Ernst Reuter sich vor dem Ersten Weltkrieg den Sozialdemokraten anschloss, war für seinen Vater, einen ehemaligen Kapitän zur See, Verrat am Bürgertum. Aus Sicht des Vaters konnte es schlimmer kaum kommen. Wie sich zeigte, war das ein Irrtum: Ernst Reuter erlebte die russische Revolution als Soldat in der Kriegsgefangenschaft. Er lernte Russisch, schloss sich den Bolschewiki an und wurde von Lenin und Stalin damit betraut, die autonome Verwaltung der deutschen Siedler an der Wolga aufzubauen.

Als es so aussah, als ob auch in Deutschland die Revolution ausbrechen würde, kehrte er in seine Heimat zurück. Erst musste er zusehen, wie die Revolution blutig niedergeschlagen wurde. Dann schloss die Kommunistische Partei ihn aus ihren Reihen aus: Seine Vorstellungen von Mitbestimmung passten der Komintern nicht. Und seine Vorstellungen von Freiheit und Humanität passten später den Nazis nicht. Auswärtige Fürsprache rettete ihn, der nun SPD-Politiker war, aus dem KZ. 1935 emigrierte er mit seiner Familie in die Türkei, wo er - Türkisch lernte er schnell, und die Türken gaben viel auf deutschen Rat - in verschiedenen Ministerien wirkte. 1946 kehrte er nach Deutschland zurück, Ende 1948 wurde er zum Berliner Oberbürgermeister gewählt.

Aufgabe Aufgabe als Stalins Mordgehilfe

Ein so wechselvolles, tätiges Leben ist in einem kurzen Filmporträt schwer darzustellen. Peter und Winterberg haben keinen wichtigen Wendepunkt ausgelassen. Sie sind sogar der Frage nachgegangen, ob Reuter als Volkskommissar an der Wolga im Zuge der von der Regierung anberaumten Säuberungen Menschen hinrichten ließ. So umsichtig er dafür sorgte, dass Getreide ins hungrige Moskau geliefert wurde, so unzureichend versah er seine Aufgabe als Stalins Mordgehilfe: Nur ein einziges Todesurteil hat er nachweislich unterzeichnet. Passagen wie diese machen den Film interessant.

Dann wieder gibt es Momente, da man sich fragt, ob ein Radiofeature nicht vielleicht doch die bessere Wahl gewesen wäre: Es scheint nämlich von Ernst Reuter wenig Filmmaterial zu geben. Die Autoren haben sich damit beholfen, ihren Film mit kitschiger Musik zu unterlegen und immer wieder auf uralt getrimmte Bilder eines Mannes zu zeigen, den sie von hinten beim Gehen aufgenommen haben.

Ernst Reuters Sohn Edzard wird ausführlich befragt und - es müssen ja Bilder her - an historischen Stätten gezeigt. Am eindrucksvollsten ist seine Schilderung, wie er 1946 in Hannover aus einem Zug stieg und die zerbombte, elende Stadt als "Hölle" wahrnahm.

Als Ernst Reuter 1953 starb, weinten viele Berliner. Es ist schön, dass jetzt an ihn erinnert wird. Diese Form des öffentlich-rechtlichen Patriotismus ist nicht oberlehrerhaft, sondern informativ.

Ernst Reuter - Ein zerrissenes Leben, ARD, 23.30 Uhr.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: