TV-Kritik: Doku-Soaps bei RTL 2:Knietief in Kamelkot

Willkommen im Prekariat, im Triathlon des Trashs: Der notorisch auffällige Sender RTL 2 lotet in gleich drei Formaten Tiefpunkte aus. Hier gilt es als Superspaß, wenn Menschen wie Tiere sind.

Alexander Kissler

Das Imperium schlägt zurück: Seit Jahren wird dem Privatfernsehen vorgeworfen, es behandle seine Protagonisten auf menschenunwürdige Weise, es sei ein Panoptikum der Zugerichteten und Vorgeführten, kurzum ein richtiger Menschenzoo. Besonders in seinen wie Unkraut aus dem Boden schießenden Doku-Soap-Formaten weide das Privatfernsehen sich am Schmerz der Anderen.

RTL II zündet neues Trash-Feuerwerk mit Dokusoaps

Unter Artgenossen: Die neue Doku-Soap "Das Tier in mir" bildet den Kern des neuen montäglichen Trash-Feuerwerks auf RTL 2. 

(Foto: dpa)

Nun will RTL 2 stellvertretend für eine ganze Branche aus der Defensive kommen. Der neu programmierte Montagabend ist ein dreistündiger Versuch, sich gutgelaunt zum schlechten Ruf zu bekennen: Schaut her, ja, wir sind der Menschenzoo, für den ihr uns immer gehalten habt, ja, wir zeigen Schmerzen, aber wir haben kein schlechtes Gewissen, sondern Spaß. It's fun. So sind wir halt.

Ist das nun Chuzpe oder einfach nur dreist?

Mit drei neuen Doku-Soaps hintereinander will RTL 2 den Montag zu seinem Markenzeichen machen. Den Kern der Trash-Offensive bildet das Mittelstück: Das Tier in mir. Promis beziehungsweise solche, die sich dafür halten, sollen buchstäblich "die Sau raus lassen". In der ersten Folge unterzogen sich der RTL-Moderator Oliver Beerhenke und Transvestie-Künstlerin Olivia Jones einer angeblich ebenso gewaltigen wie gefährlichen Herausforderung: Sie sollten "vier Tage lang, 24 Stunden am Tag, leben, fressen, kommunizieren und gehen wie Tiere".

Unter Artgenossen

Zu sehen waren dann lediglich unter ständiger Beschallung mit Disco-Mucke zusammengeleimte Schnipsel vorwiegend degoutanten Inhalts: Olivia stieg in einen braunen Overall und beschmierte selbigen mit Kamelmist. Oliver zog sich ein Bärenkostüm über und bestrich es mit Bärenkot - denn Braunbären und Trampeltiere waren nun ihre "neuen Artgenossen". Die Semipromis sollten schließlich immer mal wieder so tun, als wären sie Tiere: eine karnevalistische Übung.

Natürlich war Oliver bei Tag durch einen Draht und mindestens eine Aufpasserin vor dem Braunbär auf der Koppel geschützt. Nachts schlief er im Zwinger nebenan. Wenn die Kamera auf ihn gerichtet war, schnitt er Grimassen. Einmal grapschte er im selben Teich wie der Bär nach Fischen und handelte sich so ein Sonderlob der Aufpasserin ein: Das sei ein "super Erfolgserlebnis" für Mensch Oliver. Ein anderes Mal aß er Salat und Trauben, wie es Bärensitte ist, und schmatzte vergnügt.

Olivia hingegen platzierte den Schlafsack inmitten des Kamelgeheges und schlief kaum. Die Tiere nämlich schnarchten, schmatzten, setzten Darmwinde frei. Am Tag trug Olivia einen Fellrucksack als Höckerersatz. Sie schleckte kurz am sehr salzigen Mineralstein und imitierte, ebenso kurz, einen Kamellaut.

Die Fressmaschine und der perfektionistische Ungar

Ansonsten tat Olivia, was auch Oliver tat, weil sie beide Menschen sind: reden, reden, reden. Als PR-List mit Methode erwies sich selbstredend die Ankündigung, es den Tieren wirklich gleichtun zu wollen. Allein die Sehnsucht danach spricht aber Bände: In einer Zeit, in der Menschen die Grenzen des Menschenwürdigen neu ausloten, will man jetzt auch ganz offen auf die Ansprüche der Gattung verzichten, will einfach grunzen, quieken, derbe sein.

Begonnen hatte der schrille Montagabend mit einem sonderbaren Verschnitt. Was kommt heraus, wenn man die Teenager außer Kontrolle, denen RTL den Letzten Ausweg Wilder Westen wies, mit den kaum noch zählbaren Adipositas-Shows à la Biggest Loser oder Das große Abnehmen verquirlt? Genau, dann schaut man acht extrem fettleibigen Teenies zu, wie sie vor exotischer Kulisse gegen ihr Gewicht und gegen die Hitze kämpfen. Abenteuer Afrika, im Untertitel "Deutsche Teenies beißen sich durch", heißt das neueste Produkt für schadenfrohe wie schamfreie Voyeure.

RTL 2 findet nichts dabei, eine 22-jährige ehemalige Sonderschülerin als "die Fressmaschine" zu bewerben. Die Legasthenikerin und ehemalige Sonderschülerin Jasmine wird buchstäblich dem Medium zum Fraß vorgeworfen. Fast drei Zentner wiegt die laut der unvermeidlichen Expertin "sehr einfach gestrickte und wenig intelligente" Frau, die offenbar nicht immer weiß, was sie tut und sagt.

"Ihr habt mich mitgeschleppt", keift sie in die Kamera. Später vermeldet der Kommentator triumphal: "Jasmins Zustand verschlimmert sich." Sie schnauft und ringt nach Luft, scheint dem Kollaps nah. Das Fernsehen jubiliert.

Kaum besser ergeht es Santana. Die 19-Jährige wird als Rabenmutter vorgeführt. Kurz, bevor sie sich für drei Wochen in die Kalaharisteppe aufmachte, sei die neunmonatige Tochter "sehr krank" geworden. Ein Telefonat in die Heimat zerstreut die schlimmsten Ängste. Santana selbst nimmt blutdrucksenkende Mittel und atmet schwer. Die 40 Grad Celsius provozieren Panikattacken. Alle Kandidaten übrigens werden mit einem Datenblatt, der "Fett-Akte", vorgestellt. Dazu drehen sie sich im Kreis, kaum mit Unterwäsche bekleidet. Mehr Entwürdigung passt nicht auf eine Mattscheibe.

Zum Abschluss des Triathlons der Geschmacklosigkeit lieferte RTL 2 eine Werbeveranstaltung für das Tätowiergewerbe. Unter der Überschrift Tattoo Attacks - Deutsche Promis stechen zu durften ein TV-Moderator und eine TV-Moderatorin ausführlich erzählen, warum sie sich das erste beziehungsweise das fünfte Tattoo gleich werden stechen lassen.

Den Eingriff selbst nahmen dann eine "lebende Legende" in Las Vegas und ein "perfektionistischer Ungar" in München vor. Bei ihr war das Motiv der Wahl eine Krone, denn sie mag die Sissi-Filme, bei ihm ein rückenfüllendes Gemälde mit Wasser, Blumen, Karpfen und japanischen Schriftzeichen, denn er mag japanische Schriftzeichen. Der Rest war Schweiß, Blut und Langeweile.

In der Mitte des dreistündigen Fernsehexperiments gab es einen Augenblick der Wahrheit. Er ließ die verzweifelte Selbstverständlichkeit, mit der hier prekäre Lebensgeschichten formatiert werden, in sich zusammenstürzen. Denis, mit 170 Kilogramm der Schwerste von allen, sprach mit leiser Stimme: "Mein jetziges Leben ist öde, langweilig und aussichtslos."

Sie nennen es Fernsehen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: