TV-Kritik: "Beckmann":Die vielen Meilen des Helmut Schmidt

Geschichtsstunde mit dem Altkanzler: Helmut Schmidt erklärt in der Talkshow Beckmann die Welt - und watscht Westerwelle ab.

Hans-Jürgen Jakobs

Er hielt es wieder mit seinem Motto: "Auf eine Zigarette". Da saß er also im öffentlich-rechtlichen Fernsehstudio und paffte so viel, dass mitunter der auf Zigarettenschachteln übliche Nikotin-Warnhinweis angebracht gewesen wäre. Zwischendurch holte der Mann im Rollstuhl auch noch den Schnupftabak heraus.

Helmut Schmidt, Fritz Stern, Reinhold Beckmann

Der Altkanzler Helmut Schmidt und der Historiker Fritz Stern im Gespräch mit Moderator Reinhold Beckmann

(Foto: Foto: dpa)

Helmut Schmidt, 91, ist das Gegenmodell zum aktuellen Politiker-Typus, der es gesundheitsbewusst und glattgebügelt der Mehrheit recht machen will. Für den rauchenden Altkanzler ist beispielsweise einer wie Guido Westerwelle nur ein "Meister der Wichtigtuerei", der mit seinen nassforschen Hartz-IV-Einlassungen zur "spätrömischen Dekadenz" falsch liege: Es gebe niemanden, "der dem Volk Wohlstand versprochen hat, ohne dass man dafür arbeiten muss". Der FDP-Chef und Außenminister rede "gegen jemanden, den es gar nicht gibt".

Und, außerdem: Der Wohlfahrtsstaat sei "die größte kulturelle Leistung, die die Europäer im Laufe des 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben".

Üblicherweise hat es die ARD-Talkshowgröße Reinhold Beckmann mit der Leichtmatrosen-Abteilung des politischen Geschäfts zu tun, was bei ihm leicht zum Überschwang der Rede führt. Am Montag aber nötigte eine SPD-Legende Respekt ab. Mit seinem alten Freund Fritz Stern, 84, dem großen, einst aus Breslau geflohenen US-Historiker, räsonierte Schmidt über Geschichte und Gemeinwesen. Die beiden haben just ein Buch (Unser Jahrhundert) veröffentlicht, das nach Gartengesprächen im vorigen Sommer entstanden war.

Man merkt: Dieses Paar hat schon jahrzehntelang über seine Themen diskutiert. Man kennt die Pointe, den Spin des anderen, bleibt aber immer kultiviert höflich.

Unerhörtes zu sagen, ist dem Altkanzler ein Leichtes

Auf ihrer Zeitreise ist mal vom früheren US-Präsidenten Gerald ("Jerry") Ford die Rede oder von Franklin D. Roosevelt und seinem New Deal, dann wieder vom lebenslangen Lernen: Es müsse künftig auch "Berufsschulen für 47-Jährige oder 53-Jährige geben", sagt der Altkanzler und fordert: "Nicht so lange Rumstudieren!" Da klingt Schmidt fast wie "Schmidt Schnauze", wie der forsche Abgeordnete aus Hamburg einst im Bonner Bundestag hieß.

Betrübt ist der Zeit-Herausgeber über die Geschichtslosigkeit der heutigen Politiker-Generation. Defizite zeigten sich etwa in der Debatte um die Stiftung für Flucht und Vertreibung, bei der das Schicksal des polnischen Volkes nie richtig erfasst worden sei ("das sinkt ab"). Als sein Vorbild nennt er den römischen Kaiser Marcus Aurelius, der ihm damals in den düsteren Tagen des Zweiten Weltkriegs Kraft gegeben habe. Schmidt erwähnt auch beispielsweise Ernst Reuter oder Charles de Gaulle.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Schmidt die Siuation in Afghanistan analysiert.

Schmidt-Stunden sind immer Lehrstunden

Als die Sprache auf den sympathischen Stil in der Politik kommt, merkt der Sozialdemokrat an, dass auch Hitler, Stalin und Mao Charismatiker gewesen seien. Sein Geschichtsfreund Stern empfindet es jedenfalls als Erleichterung, dass der derzeitige US-Präsident Barack Obama anders als sein Vorgänger George W. Bush sich ausdrücken könne.

Ein Altkanzler wie Helmut Schmidt tut sich leicht, vor laufender Kamera Ungewöhnliches, ja fast Unerhörtes zu formulieren. Zum Thema Afghanistan sei er immer skeptisch gewesen, führt der SPD-Politiker aus, es habe sich dabei nie um einen Staat gehandelt, sondern immer um ein Gebiet mit zwölf Völkern.

Alexander der Große habe es richtig gemacht - und das Land nach dem Einzug gleich wieder verlassen. Diese Analyse unterscheidet sich doch sehr von der jahrelangen Freiheit-am-Hindukusch-Wortstanzerei seiner Partei.

Und beim Thema Israel bezweifelt Schmidt - anders als sein amerikanischer Freund Stern -, dass es eine "besondere Verantwortung" Deutschlands gebe ("nicht mehr als bei anderen").

Ein Robert-Frost-Gedicht wird rezitiert

Hier irre Kanzlerin Angela Merkel. Nicht jeder Deutsche, der den Staat Israel kritisiere, sei ein "Antisemit". Hier erinnerte der Altkanzler an die Nuklear- und Atommacht, die den Nichtverbreitungsvertrag ignoriert, und an die aggressive Siedlungspolitik und Mauerbauerei.

Schmidt-Stunden sind immer Lehrstunden, und so kam die ARD diesmal im Sumpfgebiet der Unterhaltung nebenbei ihrem Bildungsauftrag nach. Selbst die Quoten-Junkies dieses Systems dürften das getragene Studiogespräch nicht als langweilig empfunden haben. Beckmann war wohltuend altmodisch.

Sogar vom amerikanischen Dichter Robert Frost war die Rede: The woods are lovely, dark and deep/But I have promises to keep/And miles to go before I sleep/And miles to go before I sleep. (Des Waldes Dunkel zieht mich an/Doch muss zu meinem Wort ich steh'n/Und Meilen geh'n bevor ich schlafen kann/Und Meilen geh'n bevor ich schlafen kann.)

Meilen geh'n, bevor ich schlafen kann - dieses Gedicht sei ihm vor 40 Jahren zu Herzen gegangen, erzählt Staatsmann Schmidt, der Politik stets als Verpflichtung durch das Grundgesetz begriff. Die Leute sollten einmal sagen, "dass der Schmidt versucht hat, seine Pflichten anständig zu erfüllen", erklärte der Altkanzler zum Schluss, ganz im Sinne Robert Frosts.

So viel zum Vermächtnis.

Dass sein schönes Studio 75 Minuten in einer Rauchwolke lag, kümmerte Moderator Beckmann am Ende dann doch noch einmal. Fritz Stern jedenfalls versicherte, er würde sich beim amerikanischen Fernsehen dafür einsetzen, dass Helmut Schmidt auch dort rauchen dürfe, falls er noch einmal in die USA zu einem solchen Talk kommen wolle.

Aber danach sieht es, schade für die Amerikaner, nicht aus.

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