TV-Kritik: Beckmann und Stuttgart 21:Die verlorenen Stuttgarter

Das Bahnprojekt "Stuttgart 21" hat gute Bürger wie den Schauspieler Walter Sittler oder die Mediatorin Christine Oberpaur vor die Wasserwerfer gebracht. Im ARD-Talk "Beckmann" entwickelte sich ein Stück ziviler Ungehorsam.

Hans-Jürgen Jakobs

Was hatte man sich alles einfallen lassen an abträglichen Formulierungen. Abwechselnd waren sie vorgestrig, die Moderne ablehnend, ja Systemfeinde. Um die Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 zu diskreditieren, fehlte es an keinen saftigen Vokabeln.

Stuttgart 21 - Montagsdemonstration

Es gibt in Sachen Stuttgart 21 nichts mehr zu verhandeln, meint Schauspieler Walter Sittler. Die Koalition Stadt-Land-Polizei-Bahn hat Fakten geschaffen.

(Foto: dpa)

Und dann sitzt im Fernsehstudio eine Frau wie Christine Oberpaur, mit Perlenkette und kunstvoller Frisur. Eine Frau, die beruflich als Mediatorin arbeitet und von sich sagt, dass sie immer CDU gewählt und in eine "CDU-Familie" eingeheiratet habe, dass sie aber bei der Landtagswahl im März 2011 auf keinen Fall mehr die Partei des Ministerpräsidenten Stefan Mappus wähle.

Wenn der Zuschauer dann die erschrockene, verschreckte, ja verdruckste Reaktion der christdemokratischen Verkehrs- und Umweltministerin Tanja Gönner sieht, dann wird jedem klar: Hier, im angeblichen "Musterländle" Baden-Württemberg, ist mitten in besten Bürgerkreisen etwas gewaltig schiefgelaufen. Hier hat die Demokratie ihr Volk verloren. Hier isoliert sich ein System von oben.

Es ist das Verdienst des ARD-Talkmoderators Reinhold Beckmann, je zwei Streiter für und wider die geplante Super-Untergrund-Eisenbahn von Stuttgart an seinen Hamburger Fernsehtisch gebracht zu haben. Die Runde bemühte sich um ein wirkliches Gespräch nach all den verunglückten Eskalationen der vergangenen Tage, doch blieb der Grundwiderspruch bestehen, auf den vor allem der Schauspieler Walter Sittler hinwies: Es gibt nichts mehr, worüber die Demonstranten verhandeln könnten, weil Stadt-Land-Polizei-Bahn Fakten geschaffen haben. Der Nordflügel des Bahnhofs ist abgerissen, etliche Bäume sind gefällt.

Das Projekt rechnet sich - in hundert Jahren

In der Logik des Bahn-Vorstands Volker Kefer sind das alles notwendige Vorarbeiten für die große Magistrale zwischen Paris und Budapest, im Grunde kleine Facetten eines Projekts, das sich im großen Zeitraum von 100 Jahren rechne und dessen Kosten genau geplant seien, inklusive Puffer für die Risiken. Kefer lächelte eigentlich ununterbrochen während der kleinen Diskussion und hatte vermutlich Weisung, auf keinen Fall rechthaberisch zu wirken.

Dieser technizistische Fortschrittsglaube - die Erde ist hier eine leicht umzuschaufelnde Materie - kontrastierte bei Beckmann mit den Sorgen der guten Bürger, die ihre Regionalbahn wie gehabt benutzen wollen und die sich fragen, wie der problematische Stuttgarter Untergrund all die Jahrhundertarbeiten der Bahn verträgt.

In dem Maße, wie die Stuttgart-21-Gegner Sittler und Oberpaur freundlich-bestimmt ihre Argumente vortrugen, gerieten die beiden Projektbefürworter vollends in die Defensive. Auch wirkten die Bilder vom vorigen Donnerstag nach, als die Polizei mit Wasserwerfern, Reizgas und Schlagstöcken gegen Kinder und brave Bürger-Demonstranten vorgegangen war.

Rabiate Staatsmacht - in Stuttgart und bei einer Popsängerin

Christine Oberpaur war der Schreck noch anzumerken: Für die Frau, die in beliebter Halbhöhenlage des Stuttgarter Kessels wohnt, war es die erste harte Demo-Erfahrung ihres Lebens. Sie ist heute noch empört, welches Gesicht der Staat da zeigte. Jetzt könne es nicht mehr um Mediation gehen, weil es ja keine Spielräume gebe, sondern nur um Kommunikation, sagt die Stuttgarterin. Was sie meint: Erklärt uns bitte das Projekt im Detail! Behandelt uns nicht wie lästige Querulanten! Sie spricht gerne von "ihrem" Bahnhof, der ja jetzt vernichtet werde.

Bilder wie von den Demo-Zwischenfällen am Donnerstag werden sich nicht wiederholen, sichert die Ministerin Gönner zu. Sie wirkt kleinlaut. Nein, es würden jetzt keine weiteren Bäume gefällt und der Südflügel des Bahnhofs werde auch nicht abgerissen. Man müsse jetzt wirklich miteinander reden, meint die CDU-Frau und bietet der Perlenketten-Protestdame Oberpaur ein Zweiergespräch an. Das klingt jedenfalls schon mal ganz anders als der Innenminister Heribert Rech, der in Politschranzen-Manier den martialischen Polizeistil verteidigt und die Demonstranten übel beschimpft hatte.

Da darf Bahn-Manager Kefer im Talkfernsehen nicht nachstehen und verabredet sich ebenfalls mit Opponent Sittler. Geredet freilich wurde auch vergangene Woche, doch weil gleichzeitig Ministerpräsident Mappus und Bahn-Chef Rüdiger Grube einen Baustopp kategorisch ablehnten, geriet die Sache rasch zur Farce. Jetzt sollen offenbar Angebote gemacht werden, die das Projekt an der ein oder anderen Stelle verändern.

Das offensichtliche Ziel: Engagierte Zeitgenossen wie Oberpaur und Sittler, die im Fernsehen so authentisch wirken, dürfen allem Anschein nach nicht länger ausgegrenzt werden. Die verlorenen Bürger von Stuttgart sollen zurückgewonnen werden.

Das "lebende Mahnmal" Benaissa

Nach seinem Stuttgart-21-Schlichtungsgespräch versucht sich Beckmann übrigens noch an einer medienrechtlichen Aufarbeitung des Falls der Popsängerin Nadja Benaissa. Sie erzählt von Unwahrheiten im Haftbefehl und in der offenherzigen Presseerklärung des Staatsanwalts, woraufhin die Boulevardpresse im großen Stil von ihrer HIV-Infektion und ungeschütztem Geschlechtsverkehr schrieb. Dabei hatten die Ermittlungen noch gar nicht richtig begonnen.

Ihr Medienanwalt Christian Schertz geißelt die Informationspolitik der Justiz, erwähnt all die Indiskretionen im Fall Jörg Kachelmann und streitet sich mit Ex-Bild-Chefredakteur Udo Röbel, der aus einem Urteil des Berliner Kammergerichts zitiert, das nachträglich den Journalisten bescheinigt hat, sie hätten über den Fall berichten können. Nadja Benaissa sei eben für viele junge Leute ein Vorbild, deshalb habe ihr Lebensstil eine öffentliche Relevanz.

Die heikle Unterscheidung zwischen öffentlichem Interesse und dem Schutz der Privat- und der Intimsphäre ist natürlich nur bedingt ein Talkthema für Beckmann, aber immerhin erzählt Nadja Benaissa aus ihrem Leben.

Weil sie in Los Angeles war und nach ihrer Rückkunft die Post wochenlang nicht öffnete, blieb eine Vorladung der Polizei unbeachtet. Die ließ sie dann öffentlichkeitswirksam vor einem Konzert verhaften. Jetzt streitet die einstige Sängerin der in einer TV-Castingshow gefundenen Band No Angels für die Aids-Hilfe.

Sie sieht sich selbst als "lebendes Mahnmal", wie sie bei Beckmann ausführt, als Beispiel dafür, dass HIV längst nicht auf Prostituierten- und Junkie-Kreise beschränkt sei und man den Betroffenen ihre Infektion nicht ansehe. Nadjas Partner, der sich infizierte, hätte ja auch eine Verantwortung gehabt, sagt die Frau von der Aids-Hilfe im Einspielfilm.

Womöglich war es ja auch dem Staatsanwalt um Abschreckung gegangen, um ein prominentes Fallbeispiel. Aber das spielte an diesem Montagabend bei Beckmann, nach all den schwierigen Gesprächen, keine Rolle mehr. Und Auma Obama, die Schwester des US-Präsidenten, kam ja auch noch und redete über Aids-Prävention.

In Stuttgart aber wird weiter demonstriert.

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