TV-Kritik: Anne Will zu den Wahlen:Reifenwechsel bei voller Fahrt

Überraschend sachliche Debatte über die Konsequenzen des Wahldebakels: Heiner Geißler macht durchaus kreative Vorschläge, Jakob Augstein erinnert an Gerhard Schröder, nur Klaus Wowereit ist unerträglich gut gelaunt.

Oliver Klasen

Der bemerkenswerteste Satz in der TV-Runde bei ARD-Morderatorin Anne Will fällt schon, ehe die Sendung überhaupt begonnen hat. Zwischen Tatort und Talk hat die ARD, wie an solchen Wahlabenden üblich, eine Extra-Ausgabe der Tagesthemen plaziert, mit neuesten Zahlen und Ergebnissen. Aber bevor der Moderator Tom Buhrow in Hamburg übernehmen darf, gibt es ein kurzes Gespräch zwischen Anne Will und Heiner Geißler, dem Schlichter bei Stuttgart 21. Es ist ein Vorgeschmack auf die anschließende Diskussion, gewissermaßen ein Appetithäppchen für die Zuschauer, falls es dessen überhaupt bedarf an solch einem denkwürdigen Wahlabend.

Anne Will bekommt neuen Sendeplatz - doch welchen?

Anne Will diskutiert am Sonntagabend mit ihren Gästen über die beiden Wahlen.

(Foto: dpa)

Will fragt nach den Wutbürgern, die wohl die Wahl in Baden-Württemberg entschieden haben und die zu großen Teilen dem eher bürgerlichen Lager angehören. Ob es mutig gewesen sei von denen, die Macht in die Hände der Grünen zu geben. "Ja, es war mutig und es war auch richtig", sagt Geißler.

Für all diejenigen, die es vielleicht vergessen haben: Heiner Geißler ist Mitglied der CDU. Zwar ist er als Querdenker bekannt, der öfters Meinungen vertritt, die konträr zur herrschenden Lehre der Partei stehen, aber dieser Satz lässt trotzdem aufhorchen. Ist das die klammheimliche Freude darüber, dass die atomfreundliche Mappus-CDU abgewählt wurde?

Geißler, der aus Baden-Württemberg stammt, aber heute in Rheinland-Pfalz lebt, wird die Wirkung dieses Satzes etwas revidieren im Laufe der Sendung. Er wird Angela Merkel loben für das dreimonatige Atom-Moratorium, Umweltminister Norbert Röttgen als "besten Mann" bezeichnen und auch auf Nachfrage nicht als "Betonkopf". Dennoch wird man als Zuschauer den Eindruck nicht los, dass Geißler, wenn er in seinem Heimatland zur Wahl aufgerufen gewesen wäre, zumindest kurz überlegt hätte, ob das noch seine CDU ist, der er guten Gewissens seine Stimme geben kann.

Zunächst geht es allerdings nicht um das Seelenleben von Heiner Geißler, sondern um die Folgen des Wahldebakels für die Regierung Merkel und die Konsequenzen für die Atompolitik. Es entwickelt sich eine überraschend sachliche Debatte, gemessen jedenfalls daran, mit welch harten Methoden die Wahlkämpfe in den vergangenen Wochen geführt wurden.

Der Journalist und Verleger Jakob Augstein zieht Parallelen zwischen der jetzigen Situation von Schwarz-Gelb und der Lage der SPD nach der verlorenen NRW-Wahl 2005. Damals trat Gerhard Schröder die Flucht nach vorn an und führte Neuwahlen herbei. Diesen Weg empfiehlt Augstein auch Angela Merkel, denn dann könne sie eine Neuauflage der großen Koalition versuchen, in der sie ohnehin viel erfolgreicher gewesen sei.

Einen völlig anderen Weg schlägt wiederum Geißler vor. Er fordert von seiner Partei, die Option Schwarz-Grün endlich ernsthaft in den Blick zu nehmen. Es sei ein ganz schwerer Fehler gewesen, dass man alle Brücken zu den Grünen abgebrochen habe. Gefühlte zehn Minuten Redezeit verbringt er später damit, auf die FDP zu schimpfen, die schuld sei am schlechten Erscheinungsbild der Regierung in Berlin. Die Liberalen hätten sich zu einer wirtschaftsradikalen Kraft entwickelt und mit der guten alten Bürgerrechts-FDP von früher nichts mehr gemein.

Ein grüner Bär steckt am Anzug

Die anderen Politiker in der Runde tragen nur wenig zur Klärung der Frage bei, was jetzt mit der Regierung Merkel geschieht. Klaus Wowereit (SPD), der Regierende Bürgermeister von Berlin, ist zu sehr damit beschäftigt, gute Laune zu demonstrieren, trotz zweier historisch schwacher Ergebnisse in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Und Jürgen Trittin, der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, der von allen Gästen natürlich den entspanntesten Gesichtausdruck hat, denkt offenbar schon über den Abend hinaus.

An seinem Anzug prangt ein kleiner Anstecker in Form eines grün eingefärbten Berliner Bären. Die Grünen hoffen ja bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl im Herbst ihre Spitzenkandidatin Renate Künast ins Bürgermeisteramt hieven zu können und der SPD, genau wie in Baden-Württemberg, den Rang abzulaufen. Trittin zu Wowereit: "Er kann sich schon mal dran gewöhnen."

Bildungsministerin Annette Schavan von der CDU und FDP-Generalsekretär Christian Lindner wollen dagegen den Gedanken an die Zukunft möglichst weit von sich wegschieben. Sie können nur gebetsmühlenartig das wiederholen, was alle Regierungsvertreter an diesem Abend in die Fernsehkameras sagen: Dass die Katastrophe in Japan alle anderen Themen überlagert habe, dass es schwierig gewesen sei, mit landespolitischen Themen noch durchzudringen.

Personelle Konsequenzen nach der Niederlage? "Das Ergebnis müssen wir gemeinsam verantworten", sagt Schavan. Sicher gebe es eine Debatte, auch über Personen, aber nicht heute Abend, und Guido Westerwelle bleibe ohnehin an der Spitze der Partei. Da helfen auch Anne Wills kritische Nachfragen und ein Einspielfilm nichts, in dem FDP-Mann Wolfgang Kubicki den Rücktritt vom FDP-Fraktionschefin Birgit Homburger fordert.

Als Lindner die energiepolische Wende der schwarz-gelben Regierung erklären soll, findet er immerhin einen originellen Vergleich. Die von Merkel verkündete Aussetzung der Laufzeitverlängerung sei "wie bei voller Autobahnfahrt die Reifen zu wechseln". Übertreffen kann das nur CDU-Veteran Heiner Geißler: Von Jakob Augstein auf die Forderung von Helmut Kohl angesprochen, keine voreilige "Rolle rückwärts" bei der Laufzeitverlängerung zu unternehmen, nennt er den Altkanzler einen "energiepolitischen Pius-Bruder", an dem sich eine moderne Union auf keinen Fall orientieren könne.

Die Tagesthemen nach der Anne Will-Sendung liefern dann den schlichtesten Beitrag des Abends. Schauplatz ist Rheinland-Pfalz, die Wahlparty der SPD. Ein junger Mann hält ein Schild in die Luft: "Kurt und gut" steht darauf.

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