TV-Kritik: Anne Will:"Jeden Tag ein kleiner Burn-out"

Heute Kuala Lumpur, morgen London - heute Brandenburg, morgen Bayern: Was macht das mit einer ganzen Gesellschaft, wenn alle permanent mobil sein müssen? Spannende Frage, doch der TV-Runde bei Anne Will gelingt der Zugang nicht. Das dürfte an der Auswahl der Gäste liegen: Ein Weihbischof, ein Blogger, eine Putzfrau - und ein radikaler Marktliberaler.

Hannah Beitzer

Die Aufzählung des jungen Manns nimmt gar kein Ende: Zürich, Kiew, Dubai, Kuala Lumpur, Perth, Auckland, Los Angeles und Houston sind nur ein paar Stationen auf der Geschäftsreise des IT-Managers, den das Team von Anne Will für den Einspielfilm zur Sendung "Moderne Jobnomaden - mobil, heimatlos, ausgebrannt?" interviewte. Auf dem Flughafen treffen die Journalisten noch weitere hochbeschäftigt aussehende Menschen, die mit ihren Laptops durch die Schalterhalle hetzen - die Senator-Card der Lufthansa haben sie längst alle, 60 Stunden arbeiten sie pro Woche.

Anne Will bekommt neuen Sendeplatz - doch welchen?

"Moderne Jobnomaden - mobil, heimatlos, ausgebrannt?" war das Thema der Runde bei Anne Will. Eine spannende Frage, nur leider ging es dann doch wieder um Mindestlöhne und radikale Marktliberale.

(Foto: dpa)

Aber was macht das eigentlich mit einem Menschen, ja, mit einer ganzen Gesellschaft, wenn alle permanent mobil und flexibel sein müssen oder wollen? Zu gern hätte man als Zuschauer den jungen IT-Berater aus dem Einspielfilm gefragt, ob er eigentlich Kinder hat. Oder den Anwalt mittleren Alters, was seine Familie dazu sagt, dass er die ganze Zeit unterwegs ist. Oder die junge Frau mit dem Laptop, wie oft sie ihre beste Freundin aus der Schulzeit noch trifft - von Facebook einmal abgesehen.

Aber leider gelingt ein so unmittelbarer Zugang in der Sendung nicht, was sicher an der Auswahl und Zusammensetzung der Gäste liegt. Die haben zwar alle ihre Agenda im Blick - aber sich gegenseitig nichts zu sagen. Da ist zum einen Ernst Prost in der Rolle des Unternehmers mit Herz. Den Geschäftsführer einer Mineralölfirma kennt man schon aus dem Fernsehen, wo er in einem ebenso hölzernen wie reizenden Filmchen für Motorenöl wirbt - made in Germany, aus moralischer Verantwortung. Sein Gegenpart - allzu offensichtlich als Unsympath des Abends gecastet - ist der Publizist und mehrfache Parteienwechsler Oswald Metzger. Der ehemalige Politiker startete seine Karriere bei der SPD. Inzwischen hat er sich zu einem derart penetranten Marktliberalen gewandelt, wie es sie nicht einmal mehr in der FDP gibt.

Für Prost sind die modernen Jobnomaden zu bedauern. Es seien zum Beispiel die Menschen im Osten, die in ihrer Heimat keine Stelle finden. "Man kann doch nicht von einem Mann aus Brandenburg, der da eine Ausbildung gemacht hat, erwarten, dass er sich den Sepplhut aufsetzt und in Bayern Bier im Biergarten serviert", sagt er. Oswald Metzger hingegen will das ganz normal finden: "Früher haben die Bauern die zwölfjährigen Kinder für die Arbeit verkauft." Und: "Das muss sich der Mensch klarmachen, dass er persönlich keinen Anspruch an einen Dritten stellen kann, dass er dort arbeiten kann, wo er gerade leben will."

Metzger und seine Sprüche treiben auch den dritten Gast bei Anne Will zur Weißglut: Putzfrau und Betriebsrätin Susanne Neumann, die als Vertreterin der kleinen Leute ins Studio geholt wurde. Sie kann viel von Stress und Arbeitsbelastung erzählen - von Putzfrauen, die drei verschiedene Reinigungsjobs haben, einen morgens, einen mittags, einen nachts - und die nebenbei noch ihre Kinder erziehen müssen. Häufig alleine. Mit Blick auf den Einspielfilm sagt sie lakonisch: "Ich leb' im kleinen Raum nicht anders. Nur mein Gehalt ist niedriger."

"Deswegen sind Sie halt in einem Dienstleistungsbetrieb", ätzt Metzger. Susanne Neumann schnappt nach Luft, für sie springt Unternehmer Prost in die Bresche: "Das sind Leute, die für sechs Euro die Stunde arbeiten", ruft er. Die Runde nimmt Fahrt auf, es geht um Leiharbeit, um Mindestlöhne - lautstark, gerne auch mal gleichzeitig posaunen die Diskutanten ihre Meinung in den Raum. Anne Wills letzter Rettungsanker ist der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke, der mehrmals wie auf Knopfdruck Versöhnliches und Salbungsvolles von sich gibt: "Das ist unwürdig, was Sie da schildern", sagt er zum Beispiel zu Susanne Neumann. Aber auch: "Mobilität kann eine Chance sein."

Träume, Abenteuerlust - und die Einsamkeit

Da ist er voll auf einer Wellenlänge mit einem Gast, der in dieser Runde völlig fehl am Platz wirkt: Sascha Lobo, Blogger und Irokesen-Träger, ist eigentlich als positiv gestimmter Vertreter der mobilen digitalen Bohème eingeladen worden. Und er setzt auch ein paar Mal an: "Es geht mir gegen den Strich, dass hier Mobilität als grundsätzlich schlecht dargestellt wird", sagt er und lächelt freundlich. Gleich fällt ihm Ernst Prost ins Wort: "Wir müssen unterscheiden zwischen klugen Menschen wie Ihnen, die durch Mobilität ihr Unternehmen zur Blüte treiben, und den einfachen Menschen, die nur mit ihren Händen arbeiten können." Gerade für diese Menschen sei es schlimm, dass sie zur Mobilität gezwungen würden.

Sascha Lobo versucht es mit einem Witz: "Klar, erzwungen ist alles doof - erzwungen ist auch meine Frisur doof, nicht erzwungen ist sie toll." Das Publikum goutiert die kleine Auflockerung in der ansonsten reichlich verbissenen Runde mit erleichtertem Gelächter - doch von den Mitdiskutanten ist keiner zu Scherzen aufgelegt. Es wird mehr und mehr klar: Keiner weiß eigentlich so recht, was das Thema der Sendung sein soll: Geht es nun um prekäre Beschäftigungsverhältnisse? Um Bildung? Um Gehälter? Oder doch um die Verelendung des Ostens? Um Mobilität geht es jedenfalls nur am Rande.

Richtig kompliziert wird es, als noch ein weiterer Gast zur Runde stößt. Anne Will bittet den Unternehmensberater Franz Krause zur Einzeltherapie auf ihr kleines weißes Sofa, der nach einem Burn-out sein Leben neu ordnen musste. "Ich habe fünf Jahre im Hotel gewohnt und im Restaurant gegessen", erzählt er. Krause nahm sich eine Auszeit, ging nach Australien.

Ernst Prost gibt sich etwas verwundert: "Für so einen Burn-out hätte ich gar keine Zeit. Mir macht meine Arbeit Spaß, sie macht ja auch Sinn." Er macht eine kurze Pause. "Vielleicht habe ich jeden dritten Tag einen kleinen Burn-out - aber am nächsten Tag stehe ich wieder auf und mach' mei' Gschäft." Das könnte man nun für reichlich unsensibel halten, doch Krause wehrt den Angriff milde ab: "Sinn ist das richtige Stichwort", sagt er. "Und als Führungskraft müssen Sie sich fragen: Wie kann ich Sinn vermitteln?"

Doch über die Führungskräfte will Prost nicht reden, lieber über das, was er "normale Leute" nennt. Und schon ist man wieder bei den Mindestlöhnen, die Stimmung heizt sich auf, Prost beschimpft Metzger, der angeblich in seiner Firma in Frankfurt Leiharbeiter beschäftige - oder war es doch in Hamburg?

Doch selbst wenn es tatsächlich mal um das Thema des Abends, die Mobilität, geht, funktioniert die Runde einfach nicht. Die Gäste verbeißen sich zu sehr in die Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen und Berufsgruppen, anstatt über das zu reden, was alle gemeinsam haben könnten: die Sehnsucht nach einer Partnerschaft, nach Freunden, nach einer Familie.

Es hätte viel um Gefühle gehen können an diesem Abend bei Anne Will, um Träume, um Abenteuerlust. Um die unendlich vielen Möglichkeiten - manche verlockend, manche schlicht furchteinflößend. Aber auch um Erschöpfung, um Einsamkeit, um Überforderung. Der einzige Beitrag, der sich über altbekannte Worthülsen hinaustraut, kommt in letzter Minute. "Ich habe voriges Jahr einen richtigen Absacker gehabt", erzählt Susanne Neumann. Aber: "Ich habe nicht einen Tag die Krankenkasse belastet. Ich habe einfach eine Woche jeden Abend eine halbe Flasche Wein getrunken."

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