TV-Ereignis Olympia:Weit übers Ziel hinaus galoppiert

Wenn Carsten Sostmeier Reitsport kommentiert, kann er sich längst einer Fangemeinde sicher sein. Seine Fantasie und Begeisterungsfähigkeit sind bei Zuschauern legendär. Doch mit einem Spruch bei der Olympia-Übertragung hat sich der Journalist keinen Gefallen getan: "Seit 2008 wird zurückgeritten."

Irene Helmes

Die Goldmedaille. Am Dienstagnachmittag wurde gejubelt für den ersten großen Erfolg der deutschen Olympia-Mannschaft in London. Besonders in der ARD, die bekanntlich zusammen mit dem ZDF bislang ausgiebig gelitten hatte, angesichts der als so enttäuschend wahrgenommenen Leistungen deutscher Athleten. Doch dann das.

Olympics Day 4 - Equestrian

Michael Jungs Goldritt: TV-Mann Sostmeier hatte seinen Spaß. 

(Foto: Getty Images)

Kommentiert wird der bereits erhoffte Reitertriumph von Carsten Sostmeier, dem Experten der ARD, der bei Fans längst legendär ist. Als Michael Jung mit seinem Pferd "Sam" für den entscheidenden Lauf an den Start geht, beginnen für Sostmeier "515 Meter des Daumendrückens, des Zitterns". Los geht es durch den Parcours. Bei der Abbey-Road-Station wünscht der Kommentator Jung, hier "einen Charthit zu landen". "Lord Nelson staunt dort oben auf dem Sockel", so Sostmeier erwartungsfroh ein paar Meter später.

Bei einem der letzten Hindernisse - in Stein-Optik gebaut - scheint alles klar: "die Steinzeit, die Bronzezeit ist vorbei, die Goldzeit beginnt für Deutschland". Die letzten Meter ins Ziel, der Kommentator längst völlig aus dem Häuschen: "Jung, you are younger than ever!" (Jung feiert just an diesem Dienstag seinen 30. Geburtstag). Und dann sicherheitshalber noch mal zum Mitschreiben: "Gold für Deutschland in der Vielseitigkeit, Freunde!".

So weit, so gut. Nur ist Sostmeier noch nicht fertig. Kurz darauf, während sich auf dem Platz Athleten und Trainer freuen, erinnert der Kommentator an die Vorgeschichte - und an offensichtlich nicht verdaute Entscheidungen aus dem Jahr 2004, als die deutschen Vielseitigkeitsreiter sich als Sieger sahen. Sostmeier: "Aber dann kamen ja die Franzosen, die Briten, die Amerikaner und am grünen Tisch haben sie uns mit einer fragwürdigen Entscheidung die Goldmedaillen weggerissen. Und das haben sich die Deutschen gemerkt, denn seit 2008 wird zurückgeritten. Wir holen uns Gold zurück. Gnadenlos, 2008, 2012!"

Oh je. Auch wenn bei der ARD-Übertragung alles normal weiterläuft, die Assoziation ist klar: "Seit 5:45 Uhr wird zurückgeschossen" hieß es am 1. September 1939 von Adolf Hitler, der so den deutschen Angriff auf Polen der Öffentlichkeit verkaufte. Es war der Beginn des Zweiten Weltkriegs.

"In der Wertschätzung hoffentlich jedes einzelne Pferd"

Die Weltkriegsmetaphorik platzt in die Fernsehbilder der etwas wunderlichen, offensichtlich liebevoll aufgebauten Fantasiekulisse des Reitwettbewerbs. Hier scheint die Welt eigentlich in Ordnung, so was wie Realität erfolgreich in den Hintergrund verdrängt. Da ist eine quietschbunte Mini-Abbey-Road, daneben stehen kleine, penibel zurechtgestutzte Bäumchen, wahrscheinlich Plastik. Andere Hindernisse symbolisieren die Greenwich Mean Time oder den Trafalgar Square.

Auch Sostmeier ist nicht als Unruhestifter bekannt. Der gebürtige Hesse, auch "Sosti" genannt, erhielt 2004 den "Deutschen Fernsehpreis" für seine Moderation bei Dressurentscheidungen. Für den Grimme-Preis war er nominiert. In seinem Online-Steckbrief zum olympischen ARD-Team wünscht sich Sostmeier, Star der Olympischen Spiele in London werde "in der Wertschätzung hoffentlich jedes einzelne Pferd". Es gibt eine Fanpage bei Facebook, es werden Lieblingszitate ausgetauscht.

Auf YouTube wurde vor vier Jahren ein Video hochgeladen, bei dem ein Fan einen Live-Kommentar von Sostmeier aus Peking 2008 in Reitanzug und Zylinder nachtanzt. Sostmeiers Originalstimme dazu: Da wird "Sand sanft gestreichelt" vom Pferdehuf, "aaach ist das herrlich, Freunde, das Beste der Welt". Hört man weiter, liegen Freude und Verzweiflung ganz nah beieinander, "Scheibenkleister", und "das ist ja furchtbar, ach nee, nein, er kann's doch, schauen Sie, es geht doch".

WTF, OMG oder WAS!?

Sucht man also Informationen zu Sostmeier, findet man jemanden, der seinen Lebensinhalt im Pferdesport gefunden hat und seit 1991 in der ARD erfolgreich internationale Turniere kommentiert. Dressurreiten ist für ihn "wie Mozart", hat er 2011 im Hessischen Rundfunk gesagt - und manchmal müsse man auch "ein bisschen Spinner sein", um solche "Kunst" zu lieben.

Wenig kunstvoll nun aber der Spruch in London - und der wird genauso registriert wie frühere, amüsantere Äußerungen. Es dauert nicht lange, und das Video steht im Netz, die Nachricht kursiert. User "halil93isik" etwa postet unter dem entsprechenden Video-Ausschnitt bei YouTube: "drei Buchstaben drücken meine Gefühle gerade ganz gut aus: WTF, OMG oder WAS!?". Auf Sostmeiers Facebook-Fanpage wird von den einen die Entlassung des Kommentatoren gefordert, andere nehmen ihn stark in Schutz. Von Sommerloch ist da die Rede, von Aufbauschen. Ein User schreibt: "Die Müller-Hohenstein hätte man auch schon 1000-mal entlassen müssen".

Ach, Katrin Müller-Hohenstein. Beim Auftaktspiel der Deutschen bei der WM 2010 sprach sie in Zusammenhang mit einem Tor des Nationalspielers Miroslav Klose von einem "inneren Reichsparteitag".

Bis zur nächsten Live-Übertragung am Dienstagnachmittag hat sich die Aufregung um Sostmeiers Spruch offenbar noch nicht auf ihn selbst übertragen. Er moderiert in einer weiteren Live-Schaltung die nächste Reit-Entscheidung, es gibt neue Medaillen, neuen Jubel. Am frühen Abend dann doch die Reaktion: "Es tut mir sehr leid, wenn ich mit meinen Äußerungen für Irritationen gesorgt habe", so Sostmeier in einem NDR-Statement.

ARD-Teamchef Walter Johannen lässt wissen: "Bei allem Verständnis für die Begeisterung von Carsten Sostmeier über den ersehnten Reitererfolg: Derartige Formulierungen sind Entgleisungen, die nicht passieren dürfen. Das ist jetzt auch Carsten Sostmeier klar geworden."

Immerhin, die Disziplin, die Sostmeier so in Fahrt gebracht hat, heißt nicht mehr "Military" wie früher, sondern "Vielseitigkeit". Also wenigstens eine Doppeldeutigkeit weniger.

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