TV-Ereignis Olympia:Fast wie Sadomaso

Zucker und Cola auf den Barren, dazu eine dicke Schicht Honig drauf: Kunstturnen ist eine verdammt klebrige Sauerei. Wie halten Athleten wie Fabian Hambüchen oder Silbermedaillengewinner Marcel Nguyen das bloß aus? Wenn es nicht um zähe Flüssigkeiten oder Augenfehlstellungen geht, geht es um Schmerzen. Das ZDF ist gnadenlos.

Michael König

Sadomaso ist in Großbritannien gerade ein großes Thema. Der Bestseller "Fifty Shades of Grey", ein zu lang geratener Softporno für Frauen (so die Kritiken), schickt sich an, "Harry" Potter als meistverkauftes Buch aller Zeiten zu überholen. Das ist bemerkenswert, aber nichts gegen den olympischen Mehrkampf der Kunstturner.

Fabian Hambuchen of Germany competes in the parallel bars event during the men's gymnastics qualification during the London 2012 Olympic Games

Am Barren, wo es schön klebt: Turner Fabian Hambüchen.

(Foto: REUTERS)

Der ist so schmutzig und schmerzhaft, dass "Fifty Shades of Grey" ein Kinderbuch dagegen ist. Und diese Ausdrücke! "Schlamper haben sie ihn genannt", brüllt ZDF-Kommentator Christoph Hamm ins Mikrofon, als der Deutsche Marcel Nguyen die Favoriten überrumpelt und Zweiter wird. "Aber was soll's, er hat die Silbermedaille!"

Warum zeigt das ZDF so etwas im Vorabendprogramm? Warum gibt es nicht wenigstens einen Warnhinweis? Zum Beispiel der Barren. Viele werden das Gerät aus der Schule kennen: zwei parallele Stangen, an denen es gilt, hanebüchene (oder hambüchene) Figuren zu turnen. Herunterfallen und den Boden berühren, ist verboten und gibt Punktabzug. Erlaubt ist hingegen die Vorbereitung des Gerätes, bei der jeder Schulhausmeister graue Haare bekommen würde.

"Viele nehmen Zuckerwasser oder Cola, manche mengen noch Honig bei", erklären ZDF-Kommentator Hamm und Experte Ronny Ziesmer genüsslich. Die Sauerei wird dann schön gleichmäßig aufgetragen: "Und oben kommt dann noch 'ne dicke Schicht Magnesia drauf."

So bearbeitet, sollen die Stangen ein Abrutschen der Sportler vermeiden. Aber wehe, es klebt an der falschen Stelle. Jeder Wettkämpfer legt deshalb noch einmal nach, und die Wettkampfpausen sind entsprechend lang. Zeit, sich eingehender mit der Materie zu befassen. (Warnhinweis: Zartbesaitete Menschen sollten besser nicht weiterlesen.)

"Wie kommt es eigentlich zu diesen leuchtenden, schmerzhaften Verletzungen?" Die Frage wird nicht in "Fifty Shades of Grey" beantwortet (okay, dort vielleicht auch), sondern im Übungsleiter-Magazin Ü des Deutschen Turnerbundes. Gerade bei Weltklasseturnern sei ausreichender Schutz aus optischen Gründen verpönt, klagt das Fachblatt. Die unschöne Konsequenz: "Offene Hände!"

Noch nicht genug? Na dann: "Durch mechanisch ausgelöste Reibung treten Scherkräfte zwischen diesen beiden Hautschichten (Epidermis und Dermis; Anm. d. Red.) auf, die Verankerungsstrukturen werden aufgebrochen, das Gewebe wird geschädigt. (...) Dass diese Verletzungen der Haut so schmerzhaft brennen, liegt daran, dass sich oben auf der Lederhaut die Schmerzrezeptoren befinden, die - wenn die obere Hautschicht abgeschmirgelt ist - schutzlos freiliegen."

Komme es zu "offenen Händen", müsse eine Infektion vermieden werden: "Das austretende Gewebswasser und die zweite Hautschicht, gemischt mit Magnesiaresten, Honig und und und ..., sind ein idealer Nährboden für Keime." Zur Unterstützung der Heilung rät die Autorin zu harnstoffhaltigen Fettcremes und fügt hinzu: "Das von vielen Trainern empfohlene 'Draufpinkeln' auf die offenen Hände nutzt genau den Harnstoff, wirkt also eher heilend als infektionshemmend." Auch Hirschtalg fördere die Heilung optimal.

Feld-Wald-und-Wiesen-Magnesiapulver

Klingt trivial, ist es für Elite-Turner wie Fabian Hambüchen aber nicht. "Nicht jeder hat so eine extreme Hornhautbildung wie ich", verriet er einmal der FAZ. "Ich kriege diese Platten auf die Hände und muss sehen, dass sie rissfrei bleiben. Ich muss sie abends abschleifen, damit keine Kanten entstehen, und sie über Nacht mit einer fetten Creme einreiben."

Während Konkurrenten das Feld-Wald-und-Wiesen-Magnesiapulver benutzen, das der Olympia-Gastgeber in großen Bottichen bereitstellt, lässt der Deutsche sein Material eigens aus Japan einfliegen - für 15 Euro pro Kilo. Hambüchen trägt es in London durch die Halle, von Gerät zu Gerät. In einer blauen Plastikwanne. Die ist abwaschbar.

Aber zurück zum ZDF: Der Kameramann hält voll drauf, während einer der Juroren mit dem Finger im Ohr bohrt. Dann geht es weiter mit dem Wettkampf. Einige Sportler präsentieren waghalsige Sprünge und noch wilderen Achselhaarwuchs. Hambüchen ist nicht gut drauf und wird nur 15., womöglich war der Honig schlecht. Aber Nguyen liegt aussichtsreich im Rennen. "Er kann nach vorne schielen, aber er muss auch nach hinten gucken", sagt der ZDF-Reporter. Der arme Junge.

Wenn es nicht um Augenfehlstellungen oder zähe Flüssigkeiten geht, geht es um Schmerzen. Sie sind bei diesem Sport scheinbar allgegenwärtig. Christoph Hamm am Fernsehmikrofon jauchzt bei jedem Ausrutscher, jedem Sturz, jedem überdehnten Band.

Am Seitpferd, das manch einer vielleicht noch aus dem Schuluntericht kennt, wird die Sache schließlich zu bunt. Kazuhito Tanaka, einer aus der Achselhaar-Fraktion, wirkt nicht ganz sicher und stürzt. "Kaum eine Hüftbewegung, typisch für den Japaner, und jetzt stürzt er", ruft Hamm.

"Typisch Japaner", Wildwuchs und Hüftbewegung? Was zu viel ist, ist zu viel. Also umschalten? Im Frauen-Tennis trifft die Deutsche Sabine Lisicki auf Maria Scharapowa aus Russland. Ein spannendes Match, aber beide Spielerinnen stöhnen bei jedem Ballkontakt wie brünftige Walrosse. Der Finger sucht und findet den "Off"-Knopf auf der Fernbedienung. Auf dem Nachttisch daneben liegt, unangetastet: "Fifty Shades of Grey".

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