TV-Ereignis Olympia:Die beste Nummernrevue der Welt

Ganz zum Schluss lassen es die Briten noch einmal richtig krachen. Mit einer grotesk bombastischen Abschlusshow beendet London die Olympischen Spiele. Doch es ist, nun ja, eine Nummernrevue mit Stars wie George Michael, "Take That" und den "Spice Girls". Die Olympioniken sind hier nur noch Staffage - junge Leute, die auch mal in die Kamera grimassieren dürfen.

Lars Langenau

Der Gong schlägt. 21 Uhr Ortszeit. Kommt jetzt "Hells Bells" von AC/DC? Laufen jetzt die Spieler von St. Pauli ins Millerntorstadion ein?

Victoria Beckham performs with The Spice Girls during the closing ceremony of the London 2012 Olympic Games

Mit an Bord mit den Spice Girls: Victoria Beckham bei der Olympia-Abschlussfeier in London.

(Foto: REUTERS)

Nein, falscher Film.

Der Big Ben gongt und wir sehen ein nachgebautes Mini-London, in dem ein Winston-Churchill-Verschnitt auf einem nachgebauten Big Ben steht und Shakespeare rezitiert. Oh je, das hier kann auch ganz schön in die Hose gehen, denken wir. Wir sitzen vorm Fernseher und schauen die Abschlussshow der Olympischen Spiele im Ersten. Aber wirklich nervös sind wir nicht. Wir haben Urvertrauen. Denn wir wissen, wenn sie eins können, die Briten, dann: Fete machen!

80.000 Zuschauer im Stadion, unter ihnen Prinz Harry und Herzogin Catherine, teilen dieses Wissen mit uns - und wohl auch eine Milliarde Menschen weltweit vor den Fernsehern. Angekündigt ist vom Veranstalter nicht mehr und nicht weniger als die "beste Show aller Zeiten" - und die wollen wir natürlich nicht verpassen. "Kindergeburtstag und Weihnachten fällt auf einen Tag", sagt der Adelsexperte der ARD, Werner Erhard Rolf Seelmann-Eggebert, kurz CBE. Ein Streifzug durch 50 Jahre britischer Musikgeschichte ist angekündigt. Und die ist, ja, sagen wir mal: Wow!

Und es beginnt auch Wow: Nach "God Save the Queen" folgen Madness. Zweieinhalb Minuten später hetzen die Kameras zu den Scots Guards, die "Our House" als Marschmusik weiterspielen. Dann kommt irgendeine unbedeutende Teenieband, deren Namen wir verdrängt haben - und die das Lied "lalalalalalalala" neu interpretiert haben. Glücklicherweise rettet die Trommlertruppe Stomp die Situation, aber uns beschleicht ein Verdacht: Das hier wird eher eine große Nummernrevue, denn ein großes Konzert. Diese Veranstaltung will alles übertreffen was je da war, und das wirkt, nun ja, fast ein wenig grotesk.

Brachiale Überleitung zu "A Day in a Life" von den Beatles. Vom Band, versteht sich. In einem typischen Londoner Taxi wird Ex-Kinks-Mann Ray Davies auf die Bühne gefahren und versucht ein wenig hilflos zu singen. Nein, der Vater des Britpops versucht eher die Töne auch mal zu treffen.

Und wieso müssen da eigentlich immer junge Leute rumspringen? Ist so ein bisschen Musical-Gehabe, und das mögen wir nicht. Muss das nächste Mal nicht sein. Aber die Brasilianer würden eh nicht auf so eine Idee kommen. Oder?

Junge Damen in roter SM-Lederbekleidung

Die Kommentare der deutschen TV-Moderatoren sind da aber schon jenseits von Gut und Böse. Viel Ahnung haben die nicht von der Musikwelt. Aber sie sind enthusiastisch, nach eigenem Bekunden sogar "enthusiasmiert" - und reden sich um Kopf und Kragen, also nicht anders als bei den gesamten Spielen. Sie erwähnen eine Pferdeliebesgeschichte, reden von Äthiopiern, über deren Teilnahme man sich besonders freue und zählen immer wieder genüsslich die Stars auf, die noch kommen werden (oder auch nicht).

Olympia 2012: Abschlussfeier

Die Briten lassen es krachen: Mit dem Union Jack und einem Mega-Starauflauf bei der Abschlussfeier der Olympischen Spiele.

(Foto: dapd)

Endlich ein paar Einblendungen von Tränen des Glücks der Olympioniken - und der Enttäuschungen, die ja hier in den vergangenen 16 Tagen oft nur Zehntelsekunden auseinandergelegen haben. Und dann werden endlich die Fahnen der Länder ins Stadion getragen, begleitet von jungen britischen Damen in roter SM-Lederbekleidung, die langen Haare zur Bumspalme hochgebunden.

In der Folge die Akteure der vergangenen zwei Wochen: die Sportler. Ganz volksnah kommen sie durch die Publikumsränge. Die Deutschen wieder in ihren Ken- und Barbie-Blousons in Rosa-Blau: Sportlich auf Platz sechs in der Länderwertung, modisch auf Platz 295. Unter die Athleten mischen sich unglaublich viele Physiologen, Masseure und wohl auch Kofferträger. Im Rondell des Stadions stehen sie wie Falschgeld herum und fotografieren sich gegenseitig.

Auch eine Siegerehrung steht noch aus, die genussvoll zelebriert wird: der Marathon der Männer. Die Nationalhymne von Uganda wird als eindrucksvoller Kontrapunkt zum vorherigen "lalalalalala" gespielt und Stephen Kiprotich, der gerührte Sieger, weiß gar nicht, wo er hingucken soll.

Doch dann kommt es tatsächlich noch zu einem ergreifenden Moment: Ein Kinderchor singt "Imagine". John Lennon wird eingeblendet, noch nie gesendetes Filmmaterial, das von seiner Witwe Yoko Ono zusammengestellt wurde. Ach wie schön könnte doch eine Welt ohne Kriege, Gewalt, ohne Hunger - und ohne Nummernrevues sein.

Allerdings hechelt auch diese Gedenkminute nahezu atemlos vorbei, der etwas aus der Zeit gefallene Sänger George Michael himself bekommt seine Bühne und darf "Freedom" singen. Und er ist der erste aller Künstler, der gleich mit zwei Songs auftritt. Doch das hätte jetzt auch nicht sein müssen, hätte man doch lieber mal Kate Bush auf die Bühne geholt, anstatt nur ihren Song "Running up the Hill" laufen zu lassen. Mit "White Light" versichert der gefallene Popstar, dass er immer noch lebendig ist.

Die Olympioniken in der Arena klatschen höflich. Hier sind sie eh nur Staffage. Die wirklichen Stars stehen auf der Bühne, und die Sportler sind wieder nur ganz normale junge Leute, die sich freuen, auch mal in der ersten Reihe stehen zu dürfen und in die Kameras zu grimassieren.

Spice Girls, Nonnen, Inder, Römer

London 2012 - Schlußfeier

Sportlicher Tanz zum Abschluss der Olympischen Spiele in London.

(Foto: dpa)

Dann aber Gänsehaut bei den Kaiser Chiefs, die mods-mäßig auf Motorrollern durchs Stadion fahren und The Who interpretieren. Es folgt Russell Brand auf einem Hippiebus, der die Beatles nachsingen darf. In dem Moment ticken die chinesischen Physiotherapeuten vollkommen aus. Ein paar Minuten (oder waren es Sekunden?) später sitzt Fatboy Slim in einem riesigen Plastikkrake und legt Platten auf. Umgehend danach legen Jessie J im hautfarbenen Glitzerbody, der Rapper Tinie Tempah und Taio Cruz ihre One-Hit-Wonder hin.

Wir kommen schon gar nicht mehr hinterher, so schnell geht das hier alles. Doch dann kommt es, das Taxi, in dem Old Spice, oh excuse me, die Spice Girls sitzen. Jene Girl-Group, die in den Neunzigern mit "Wannabe" groß wurde. Eben dieses Lied, das beste in ihrer kurzen Bandgeschichte, singen sie jetzt auch auf ihrem letzten Konzert. Ein kurzes Comeback. Aber immerhin ein Comeback. Schließlich hat Victoria Beckham auch noch anderes zu tun. Die Mädchen von einst sind heute Damen. Sie sind nur geringfügig gealtert, haben aber immer noch schöne Beine. Und Ginger Spice war schon immer die Tollste von allen. Auch mit 40 noch.

Mit den Neunzigern geht's dann auch weiter: Liam Gallagher versucht sich mit seiner neuen Band Beady Eye und mit nasaler Stimme am Oasis-Klassiker "Wonderwall". Grauhaarige Mitglieder von Queen, im Hintergrund ein virtueller Freddy Mercury, die sich ein Gitarrensoli nicht verkneifen können und "We Will Rock You" brüllen. Und dann ist da wieder die Frau mit dem Glitzerbody, jetzt darf sie mal mit den Großen singen. Anyway. Monthy Python-Legende Eric Idle performt "Always Look on the Bright Side of Life", umkreist von Indern, Römern (!) und einer Horde Nonnen auf Schlittschuhen, die ihre Slips mit Union-Jack-Aufdruck zeigen. Muse zelebrieren abermals ihren ziemlich coolen Olympia-Song "Survival". Cool Britannia eben.

Aber warum müssen Altstars eigentlich mit neuen Songs auftreten, die niemand mitsummen kann? Das müssen wir brandmarken. Wieso nicht einfach wie Pink Floyd mit neuen Musikern, aber alten Songs die bessere Performance machen.

Und wo bleibt eigentlich Lady Gaga? Aber da beschleicht uns die Vermutung, dass die Amerikanerin ist - oder hat sie Schnupfen? Nun, so ein paar tolle Musiker wie Elton John oder die Stones fehlten noch, aber die wollten sich das Event wohl lieber vorm Fernseher mit einer Tüte Chips anschauen, wie wir das gemacht haben.

Andererseit macht sowas ja dick. Aber wir haben jetzt ja vier Jahre Zeit zum Trainieren. Erst dann ist wieder Olympia. In Brasilien. Und der Körperkult ist da nicht geringer, als im freizügigen London. Und wir haben dann längst unseren Waschbärbauch abgelegt und könnten wohl beim modernen Fünfkampf mitmachen, oder zumindest beim Wasserballett. Pelé war übrigens dann auch noch da, ein brasilianisches Supermodel und (natürlich) Sambatänzerinnen: Hot Brasil. "Samba Pa Ti"!

Und warum spielen die jetzt die Nationalhymne von Griechenland? Aus Mitleid? Die Choreografie der Eröffnungsfeier war schlüssiger. Hier stolzieren zu "Fashion" von David Bowie plötzlich Naomi Campbell, Kate Moss und Lilly Cole über eine pink angestrahlte Nationalflagge des Vereinigten Königreichs, allesamt in goldenen Glitzerkleidern. Auch in dem Fall hat die Kommentatorin der ARD, Ex-Schwimmerin Franziska van Almsick, eine erhellende Erklärung parat: "Großbritannien ohne Fashion und Mode" - das sei nicht denkbar. Danke für diese Information.

Es folgt ein "Phönix-Tanz" von einer Primaballerina. Dann wird das olympische Feuer gelöscht, indem es langsam zu Boden gleitet und von selbst erlischt. Der Phönix aus Großbritannien versinkt wieder in seiner Asche - und wird in vier Jahren an der Copacabana wiederauferstehen.

Ende? Denkste.

Ganz zum Schluss trällern noch Take That (ohne Robbie Williams) und kurz vor dem Feuerwerk ertönt die prägnante Stimme von Roger Daltrey von The Who. Die Nummernrevue nimmt drei Stunden später dann doch noch ein Ende. Summa summarum war es dann wohl tatsächlich die wohl beste Nummernrevue aller Zeiten. Und das Wetter hat auch noch mitgespielt. Ein Wunder.

Wiedersehen. Am 5. August 2016 in Rio. Und vielleicht dürfen wir dann auch mal die Fahne tragen.

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