TV-Dramen:Anleitung für eine "Wanderhure"

Das Sozialdrama einer Frau aus dem Mittelalter war 2010 der meist gesehene TV-Film in der Geschichte des Senders Sat1. Teil 3 wurde gerade abgedreht. Welche Zutaten braucht es also für einen echten Hit? Bauplan eines fiktionalen Erfolgs.

Katharina Riehl

In dem dicken weißen Buch, mit dem Pro Sieben Sat 1 seine sogenannten Programmhighlights für die kommende Saison anpreist, trägt Alexandra Neldel auf Seite 16 ein Schwert spazieren; daneben, auf Seite 17, richtet sich Sat-1-Geschäftsführer Joachim Kosack in einer Art Editorial an die Leser. Neldels Figur Die Wanderhure ist auch 2012/2013 wieder das Herzeigeprojekt des Senders. Mit Das Vermächtnis der Wanderhure, so Kosack, komme die quotenstarke Reihe nun zu ihrem "furiosen Finale". Vor wenigen Wochen wurden die Dreharbeiten beendet.

Alexandra Neldel in Die Wanderhure

Alexandra Neldel (li.) in "Die Wanderhure", der Verfilmung nach dem gleichnamigen Roman von Iny Lorentz.

(Foto: Universum Home Ent./Cinetext)

Für Sat 1 war Die Wanderhure der Produzenten Andreas Bareiss und Sven Burgemeister 2010 mit 9,75 Millionen Zuschauern der erfolgreichste Film der Sendergeschichte, Die Rache der Wanderhure erreichte 2012 dann 8,01 Millionen Zuschauer. Von den fünf Romanen des Ehepaars Iny Klocke und Elmar Wohlrath um die gefallene Bürgerstochter Marie verkaufte Knaur mehr als vier Millionen Exemplare. Welche Zutaten braucht es also für einen echten Hit? Versuch einer Bauanleitung.

Die Frau

Sie musste nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen, dass sie ungewöhnlich hübsch war. Das hatte sie in den letzten zwei Jahren beinahe von jedem Mann aus der Nachbarschaft zu hören bekommen. Die Komplimente waren ihr jedoch nicht zu Kopf gestiegen, denn der Pfarrer hatte ihr erklärt, dass nur die innere Schönheit zählte.

(Die Wanderhure, Seite 10)

Iny Klocke und Elmar Wohlrath waren schon eine Weile lang Brieffreunde, als sie ein Paar und ein Autorenteam wurden. Über einen Verein für phantastische Literatur und Fantasyspiele hatten sich die gelernte Arzthelferin und der Mann vom bayerischen Dorf Ende der 70er Jahre kennengelernt. Anfang der 80er heirateten sie und begannen, erste Erzählungen zu veröffentlichen, bald auch gemeinsam. Der Erfolg kam 20 Jahre später, unter dem Namen Iny Lorentz erschienen die ersten historischen Romane, Die Kastratin, Die Goldhändlerin und natürlich Die Wanderhure.

Iny Klocke und Elmar Wohlrath sagen, es habe die "leichte Nachhilfe eines ehemaligen Agenten" gebraucht, um zu entdecken, dass sich Geschichten an Frauen leichter erzählen lassen. 80 Prozent der Leser von Unterhaltungsromanen seien weiblich, heiße es immer. Für diese weiblichen Leser werden Identifikationsfiguren geschaffen. "Der Buchmarkt wünscht sich starke Frauenfiguren, und das funktioniert im Film auch", sagen Sven Burgemeister und Andreas Bareiss, die Produzenten. "Marie ist eine sehr emanzipierte Frau aus relativ einfachen Verhältnissen, die schwere Prüfungen besteht. Das ist die Musik, die Leserinnen und Zuschauerinnen hören wollen."

Marie, die einzige Tochter von Matthis Schärer aus Konstanz, kommt aus keiner übermäßig reichen oder intellektuellen Familie, aber aus ordentlichen Verhältnissen - und auch wenn solche Verhältnisse heute natürlich etwas anders aussehen als im 15. Jahrhundert, dürfte diese Beschreibung auch auf viele Leserinnen zutreffen.

Geschichten aus dem Mittelalter sind meist Erzählungen von Rittern und anderen männlichen Helden. Die Geschichten, die Elmar Wohlrath recherchiert und schreibt und Iny Klocke überarbeitet, erzählen von Frauen im Kampf gegen die Widrigkeiten des Lebens - nur eben nicht im Büro, sondern auf der Straße. "Frauen waren gerade im Mittelalter viel größeren Beschränkungen ausgesetzt", sagen die Autoren. Im Grunde erzählen sie, etwas schlüpfrig, Emanzipationsgeschichten vor opulenter Kulisse.

"Natürlich", sagen die Produzenten, "legen die Autoren eines solchen Buches ihre eigenen Prägungen in so eine Rolle." Ob es im Mittelalter wirklich so emanzipierte Frauen gegeben habe, sei zumindest fraglich. "Sicher gab es starke Frauen", ein bisschen sei Die Wanderhure aber natürlich auch ein Märchenfilm und ein Abenteuer.

Die Kulisse

Während der Richter und seine Begleiter auf den Bänken Platz nahmen (. . .), schleppte Hunold Marie zum Schandpfahl, einem eisenbeschlagenen Baumstamm, der so tief im Boden verankert worden war, dass er selbst dem Toben kräftiger Männer widerstehen konnte. Sein Holz war im Lauf der Zeit schwarz geworden von den Leibern der Verurteilten, die sich in ihrem Schmerz daran gewunden hatten, und so glatt wie ein polierter Stein. (Die Wanderhure, Seite 68)

Im September 2010 schrieb Valentin Groebner, österreichischer Professor für mittelalterliche Geschichte, einen Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - es ging um die große Popularität von Erzählungen, die in dieser Zeit spielen. Das Mittelalter, schrieb Groebner, sei keine Epoche, sondern ein Gefühl.

Die Zeit zwischen Antike und Früher Neuzeit, für die Historiker wie Groebner den Singular "das Mittelalter" ohnehin für keine sehr brauchbare Bezeichnung halten, ist fester Bestandteil der Popkultur; Noah Gordons Der Medicus wurde in den 1980er Jahren zum Bestseller und wird gerade verfilmt, Hollywood produziert erfolgreiche Popcorn-Filme wie Ritter aus Leidenschaft, die Mittelalter-Bands sind nicht mehr zählbar.

"Das Mittelalter", sagen Burgemeister und Bareiss, "ist eine ideale Kulisse für erfolgreiche Geschichten." Es gebe eine enorme Sehnsucht der Leser und Zuschauer nach dieser archaischen Welt, weil sie einfach ist. Diese Epoche sei eine Spielwiese für die eigenen Sehnsüchte. "Liebe kennt hier keine Kompromisse, und Gewalt wird direkt ausgeübt." Wenn eine Frau heute etwas durchsetzen wolle, müsse sie sich an Konventionen und Gesetze halten. "Marie dagegen darf huren und morden, um an ihr Recht zu kommen. Das scheint die Zuschauer sehr zu faszinieren."

Der Sex

Als Marie sich weiter auszog und sich dabei scheinbar unbewusst wie in einem geheimnisvollen Tanz bewegte, hielt der Graf es nicht mehr aus. Er sprang auf, packte sie und schleuderte sie auf das Bett. Bevor sie auch nur zu Atem kam, war er über ihr und drang ungestüm in sie ein. (Die Wanderhure, Seite 535)

Es gibt sicher wenige Frauen, denen der Schandkittel so gut steht wie Alexandra Neldel. Im Film rutscht der gefallenen Marie der raue Stoff über die Schultern, und es dauert da auch nicht mehr lange, bis sie das Geschäft mit der körperlichen Liebe als einzig denkbaren Ausweg entdeckt.

Während die Liebesliteratur aus dem Mittelalter, der Minnesang, ein ziemlich keusches Unterfangen mit kaum einer Möglichkeit der Erfüllung war, gehören zum modernen Mittelalterroman die Erotik ebenso wie der Ritter auf dem Pferd. Und besonders zart ist das natürlich nicht: Die Männer sind gierig, die Frauen irgendwie untertan, was aber nicht heißt, dass man Alexandra Neldel nach der Liebesnacht mit dem mächtigen Grafen nicht doch ein kleines bisschen Freude ansehen könnte. Im Mittelalterroman ist das, anders als bei literarischen Beziehungen zwischen Studentinnen und Milliardären mit Vorliebe für Fesselspiele, kein Skandal. Damals, so das Prinzip, damals war das eben so. Auch in Marion Zimmer Bradleys Artus-Fantasy Die Nebel von Avalon wurde nicht nur gekämpft, sogar bei der Päpstin kam es unter den Soutanen zum Äußersten.

Elmar Wohlrath und Iny Klocke haben dieses Prinzip im wahren Sinne des Wortes professionalisiert: Marie, die Hure, hat die Erotik zum Beruf gemacht.

Fall und Rettung

(Drei Nonnen) entfalteten ein weißes Hemd, streiften es Marie über das Kleid und führten sie so vor den Richter. Pater Honorius schlug das Kreuz, schöpfte dann mit der Rechten Weihwasser, das ihm ein Mönch in einer Schale reichte, und ließ es über Maries Kopf rinnen. "Im Namen des dreieinigen Gottes spreche ich dich, Marie Schärer, aller deiner Sünden frei und erkläre dich für so rein und unschuldig, als seist du eben aus dem Mutterschoß entschlüpft."Die Wanderhure, Seite 590)

Iny Klocke und Elmar Wohlrath sind ein bisschen stolz, wenn sie sagen, dass sie mit einer Konvention gebrochen haben. "Dass eine Figur wie Marie so tief fällt", sei für den klassischen Historienroman gar nicht denkbar. "Wir waren die Ersten, die eine weibliche Hauptfigur richtig in den Dreck gestoßen haben."

Marie, die unschuldige Tochter, wird durch eine gemeine Intrige in den gesellschaftlichen Abgrund gestoßen: vergewaltigt, vertrieben, verzweifelt - gefallen, um wieder auferstehen zu können. Dieser Weg aus der Gosse nach oben ist beliebig oft wiederholbar: "Als Knaur sagte, sie wollten Die Wanderhure ankaufen, wir erfuhren es an einem Freitagnachmittag, war die Bedingung, dass wir bis Montag das Exposé für eine Fortsetzung liefern. So kam es dann auch, dass wir Marie nicht als eine halbwegs rehabilitierte Hure haben enden lassen, sondern dass sie gesellschaftlich noch etwas mehr erreicht. So ist dann Die Kastellanin entstanden, Marie hat sich wieder aus einem guten gesellschaftlichen Stand nach unten begeben müssen." Sat 1 machte aus der Kastellanin die Rache der Wanderhure und erfand für sich die Mittelalter-TV-Reihe. Man darf den Kunstgriff nicht unterschätzen, die Zerstörung einer Figur zur Serienhandlung zu machen, aber immer ein Happy End für sie zu finden.

"Ein Buch von uns darf nicht schlecht ausgehen, sonst würden wir von unseren Lesern gesteinigt", sagen die Autoren. "Wir wollen lieber, dass die Leute etwas lesen, das positiv ausgeht, sodass sie Kraft schöpfen." Das Genre der Erbauungsliteratur stammt aus Marie Schärers Zeiten, es sollte den Glauben stärken. Man liest in Iny Lorentz' Mittelalter-Schmonzetten nicht zu viel hinein, stellt man fest, dass hier vor allem der Glaube an eine furchtbar gerechte Welt gestärkt wird.

"Wir haben selber viel gelesen, und wir wissen, wie ein Roman aufgebaut sein muss", sagen die Autoren. "Wir können es auch gar nicht anders: Die Wanderhure etwa gerät aus einer positiven Situation in eine schreckliche, und am Ende schafft sie es, sich wieder daraus zu befreien. Das ist ein ganz klassischer Aufbau. Wir machen nicht dieses Moderne wie in den amerikanischen Filmen mit den Wendepunkten. Das interessiert uns nicht. "

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