Süddeutsche Zeitung

Dokumentationen im Fernsehen:Mehr Realität statt Reality

Pseudo-Fernsehdokus mit Laiendarstellern und erfundenen Geschichten haben hohe Einschaltquoten. Die Wirklichkeit bilden sie nicht ab. Klassische Dokumentarfilmer betreiben riesigen Aufwand, um authentische Eindrücke zu vermitteln. Schade nur, dass ARD und ZDF diese Filme häufig im Nachtprogramm verstecken. Sie sollten ihren Zuschauern mehr zutrauen.

Dominique Klughammer

Die Deutschen glauben dem Fernsehen nicht mehr. Aktuelle Studien sagen sogar: Vielen Zuschauern ist es egal, dass sie regelmäßig getäuscht werden.

Ist diese Entwicklung bereits eine Folge von Scripted Reality und Lügen-TV? Klar ist: Im Nachmittagsprogramm der Privatsender laufen Pseudo-Dokus, die daherkommen als wären sie echt - tränenüberströmte Protagonisten agieren vor einer wackelnden Kamera, Experten-Interviews und Kommentarsprecher heizen die Sache noch weiter an. Zuweilen werden sogar Personen oder Nummernschilder unkenntlich gemacht, als gelte es irgendwelche Persönlichkeitsrechte zu schützen. Doch alle handelnden Personen sind Laiendarsteller und die Geschichten frei erfunden.

Nicht mein Metier, doch auf die Spitzenquoten bin ich als "echte" Dokumentarfilmerin dann doch zuweilen neidisch. Ich arbeite nahezu ausschließlich fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen und versuche mit großer Neugier Filme über Menschen und ihre Lebenswirklichkeit zu machen. Was mir und meinem Kollegenumfeld in den letzten Jahren zu denken gibt, ist, dass ARD, ZDF und die anderen mehr und mehr Angst vor dem Zuschauer zu haben scheinen. Angst davor, dass das Publikum nach immer skurrileren und vor allem kurz und knackig präsentierten Geschichten schreit, weil es sich sonst langweilt und weiter zappt.

Was ist dem Zuschauer zuzutrauen? Ganz viel, denke ich. Er müsste Dokumentarfilme nur öfter vor Mitternacht oder gar zur Primetime gezeigt bekommen. Wir alle sind zurzeit mit riesigen gesellschaftlichen Umwälzungen konfrontiert und das Dokumentarische profitiert davon. Denn wir Filmemacher haben aktuell alles, was eine gute Fernsehstory braucht: Menschen, die sich Herausforderungen stellen und kämpfen, kritische Wendepunkte, sozialen Zündstoff und Emotionen. Es gibt nichts Spannenderes als das echte Leben. Ob die Gebührenzahler irgendwann dafür aufkommen müssen, dass das Dokumentarische weiter schwindet? Konzepte für die Pseudo-Dokus, für Scripted Reality, liegen jedenfalls schon in den Schubladen öffentlich-rechtlicher Anstalten und wurden - fernab des Informationsauftrags - diskutiert.

Drei Arbeitslose aus 300 Bewerbern

Wie steht es um die Authentizität im öffentlich-rechtlichen Fernsehen? Können wir Dokumentarfilmer überhaupt die Realität, "die" Wahrheit abbilden? Der sowjetische Regisseur Sergej Eisenstein sagte bereits 1925: "Für mich ist es ziemlich egal, mit welchen Mitteln ein Film arbeitet, ob er ein Schauspielerfilm ist mit inszenierten Bildern oder ein Dokumentarfilm. In einem guten Film geht es um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit."

Klar ist: Das reine Abfilmen der Wirklichkeit allein offenbart längst nicht die Wahrheit. Aber natürlich sind wir Dokumentarfilmer trotzdem immer auf der Suche nach der Wahrheit. Gleichzeitig verfolgen wir, wie jeder Kreative, mit unserer Arbeit eine Absicht und die ist genauso subjektiv wie die Sichtweise auf ein Thema. Allein schon bei der Protagonistenauswahl nehmen wir großen Einfluss auf die Wirklichkeit.

Für meine Dokumentation "Jung, erfolgreich - arbeitslos" (2002) meldeten sich auf Inserate über 300 arbeitslose, ehemalige Führungskräfte bei mir. Wochenlang ging Tag und Nacht das Telefon. Diejenigen, die direkt mein Interesse erweckten und mit fester Stimme auf den Anrufbeantworter sprachen, hatten gleich die besseren Karten. Kamen dann noch eine gewisse Eloquenz und Esprit dazu, waren sie in der engeren Auswahl. 40 Frauen und Männer habe ich mir damals tatsächlich angesehen und am Ende wurden dann drei davon im Film porträtiert. Drei von über 300.

Die endgültige Entscheidung hat natürlich immer etwas mit gegenseitiger Sympathie zu tun, der Protagonist muss ja auch das Gefühl haben, dass seine Geschichte gut bei mir aufgehoben ist, dass ich ihn nicht bloßstelle. Gleichzeitig werfe ich auf die "Darsteller" meiner Doku den Blick des Spielfilm-Regisseurs und scanne ihn gewissermaßen: Was kann ich aus diesem Menschen rausholen, wird er mir wirklich etwas von sich zeigen?

Ich suche grundsätzlich nicht nach Menschen, die sich nur gut verkaufen wollen. Am schwierigsten und aufwendigsten war eine Protagonistensuche, bei der ich elf Monate lang schätzungsweise die Hälfte aller Frauen im Münchner Rotlichtmilieu aufgesucht oder zumindest gesprochen habe. Ich wollte über das Familienleben und damit das Doppelleben dieser Frauen einen Film drehen. Ein schwieriges Unterfangen - denn die Frauen sollten ja "real" sein und sich nicht mit verzerrter Stimme hinter schwarzen Balken verstecken.

Um das tatsächlich zu zeigen, habe ich monatelang ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufgebaut, habe sie ohne Kamera im Bordell, am Strich und natürlich auch zu Hause besucht. Ich durfte mit ihren Kindern und Eltern reden und vollkommen in ihr Leben eintauchen. Danach konnte ich weit mehr als hinter das Bekannte, das Offensichtliche schauen. Ein Idealfall, der allerdings unendlich Zeit kostet und für uns Filmemacher reine Selbstausbeutung bedeutet. Diese Zeit investieren wir als Freiberufler auf komplett eigenes Risiko, und wir bekommen dafür nichts - auch nicht die Produktionsfirmen.

Stehen die Protagonisten nach Monaten fest, dann erst lassen sich die meisten Redaktionen auf eine Zusammenarbeit ein. Oder eben auch nicht, dann war die ganze Arbeit umsonst. So kommt es - ich zitiere den 2009 verstorbenen Christian Bauer, der mir als Produzent und Ziehvater so Vieles ermöglicht hat, dass wir Dokumentarfilmer oft auf den "Stundenlohn einer Putzhilfe" kommen. Und so kommt es auch, dass manche Reporter diesen Aufwand nicht mehr betreiben können und dann zuweilen gleich inszenieren oder Protagonisten bezahlen. Das hat dann auch manchmal mit dem "Überleben" in unserer Branche zu tun.

Außerdem werden in vielen Redaktionen an die Protagonisten immer höhere Ansprüche gestellt: Das Aussehen ist viel wichtiger als noch vor zehn Jahren, nicht zu alt sollen sie sein, sie sollen deutlich, möglichst kaum Dialekt sprechen und am besten ein bestimmtes Profil haben (etwa: sympathische Frau, 40 Jahre alt, im Scheidungskrieg lebend, zwei heranwachsende Kinder, die kranke Mutter pflegend, von Arbeitslosigkeit bedroht). Ein Traum-Protagonist - am Reißbrett entworfen mit der von Redaktionen regelmäßig geforderten Fallhöhe.

Ein weiteres Phänomen, mit dem wir Dokufilmer es mehr und mehr zu tun haben: Deutschland ist durchgecastet. Viele Menschen standen schon einmal vor einer Kamera und gehen, wenn sie mit dem Privatfernsehen zu tun hatten, grundsätzlich davon aus, honoriert zu werden. Sie wissen um die Manipulationsmöglichkeiten des Fernsehens und möchten schon deswegen Geld bekommen.

Wir Dokufilmer bezahlen unsere Protagonisten nicht. Wir laden sie zum Essen ein, machen kleinere Geschenke oder zahlen höchstens Aufwandsentschädigungen. Der Grund bei einem Dokumentarfilm mitzumachen, soll nicht finanziell motiviert sein.

Die Anwesenheit einer Kamera und eines Teams verändert jede Situation in hohem Maße. Vor sieben Jahren drehte ich eine Doku-Serie über Pubertierende und ihre Eltern. Die Kamera und sicher auch meine Zwischenfragen haben einmal dazu geführt, dass eine Mutter und ihre Tochter sich bis zur totalen Erschöpfung gestritten haben. Ist diese Szene dann wahr? Ich denke ja, denn die beiden hatten mir zuvor bei jedem Telefonat erzählt, dass sie permanent streiten und die Stimmung zu Hause hochkocht, aber dass der große Knall noch ausstünde. Da waren wir dann im entscheidenden Moment dabei. Oder haben wir ihn ausgelöst? Irgendwann hätte er auch ohne uns stattgefunden.

Als Dokumentarfilmer können wir in diesen Momenten nicht immer dabei sein - wir haben nicht die dafür nötigen Drehtage und können auch unser Team nicht immer auf "Standby" halten. Aber wenn es gelingt, ist es meistens die Schlüsselszene im Film: Eine Geburt, die Jobzusage, der erste Schultag, eine erste Begegnung von Adoptiveltern mit ihrem Kind oder aber auch eine Entlassung, der Ausbruch einer Krankheit, eine Abschiebung, eine Scheidung.

Mit diesem Material müssen wir verantwortungsvoll umgehen, gerade Jugendlichen gegenüber haben wir eine besondere Verpflichtung: Welcher Eindruck bleibt hängen? Wie ist es mit Infos über Alkohol und Drogen? Dürfte ein zukünftiger Arbeitgeber den Film sehen?

Aber wir müssen unsere Geschichten auch gut und unterhaltsam erzählen und da geht die Einflussnahme vor allem im Schnitt weiter. Wie baue ich den Einstieg in den Film, mit welchen dramaturgischen Mitteln arbeite ich, wie sehr lenke ich die Atmosphäre des Films durch Musik, ergänzt der Kommentartext nur Informationen oder mache ich damit Stimmung? Putzen wir alle O-Töne, bis ein gerader, kurzer Satz entsteht?

Puristen wie Klaus Wildenhahn (Rheinhausen, Herbst) oder das amerikanische Direct Cinema um D. A. Pennebaker (Monterey Pop, The War Room) stehen für ein Minimum an Einmischung, für die reine Beobachtung. Auf der anderen Seite der Skala gibt es Mockumentarys wie Kubrick, Nixon und der Mann im Mond: Der parodierende Dokumentarfilm von William Karel zeigt die Möglichkeit der Manipulation und Irreführung von Massenmedien auf.

Gerade in Zeiten von Scripted Reality, Doku-Soap und Dokutainment haben Dokufilmer eine ganz besondere gesellschaftliche Verantwortung. Vielleicht könnten die Öffentlich-Rechtlichen den Begriff "Doku" schützen, könnten ganz selbstbewusst auf die Stärke des Dokumentarischen vertrauen und vor allem nicht das, was im Privatfernsehen Quote bringt, nachmachen.

Dominique Klughammer, 43, ist freiberufliche Dokumentarfilm-Regisseurin unter anderem für ZDF und Arte. Für ihre Reportage in der ZDF-Reihe 37 Grad "Jung, erfolgreich - arbeitslos" wurde sie 2004 mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet, 2007 war sie mit "Das Ende der Kindheit" für den Grimme-Preis nominiert. Aktuell arbeitet sie an eine Langzeitdokumentation über drei Generationen von Deutschen.

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Quelle:
SZ vom 11.10.2011/cag/luk
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