Süddeutsche Zeitung

TV-Dokumentation über Leben in Israel:Alltäglicher Wahnsinn in Jerusalem

Filmproduzent Volker Heise möchte mit den bekanntesten Regisseuren Deutschlands 24 Stunden lang das Leben in Jerusalem filmen. Vor Ort erkennen sie: Der Irrsinn des Projektes ist beherrschbar. Nicht aber der Irrsinn der Stadt.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Es ist ein ganz normaler, also ungewöhnlicher Tag in Jerusalem. Im Morgengrauen beten die Ersten an der Klagemauer und oben auf dem Tempelberg, die Letzten fallen unten in Talpiyot aus den lauten Clubs. Ruth Bach hat in ihrer Wohnung im Westen endlich in den späten Schlaf gefunden, und im arabischen Ostteil bereitet sich Mahdi Abdul Hadi auf einen anstrengenden Vormittag zwischen zwei Wohnungen und zwei Welten vor.

Es ist sechs Uhr in der Früh, die Stadt sendet Lebenszeichen auf verschiedenen Frequenzen. Und 70 Kamerateams schwirren aus, um an einem Tag im April anno 2013 dieses Leben einzufangen, abzulichten, festzuhalten. Allen Widerständen, allen Drohungen und auch einem Boykottversuch zum Trotz. 24 Stunden, einmal rund um die Uhr zwischen zwei Sonnenaufgängen, sind die Teams unterwegs mit den Protagonisten aus dieser Stadt - mit Juden und mit Arabern, Alten und Jungen, Helden und Opfern. Ein ultra-orthodoxer Rabbi ist dabei und ein Escort-Girl, palästinensische Flüchtlinge und deutsche Einwanderer.

Ihr Alltag wird einen Tag lang in Echtzeit gefilmt für die Dokumentation 24h Jerusalem - und genau in einem Jahr im April anno 2014 wird das dabei entstandene facettenreiche Porträt der Stadt auf Arte und im Bayerischen Fernsehen gesendet: 24 Stunden lang, nonstop und in Echtzeit, ohne Zeitsprünge, aber mit vielen Ortswechseln. Es ist eine Herausforderung für Mensch und Material, für Fernsehmacher und Fernsehzuschauer, und für Volker Heise ist es irgendwas zwischen Traum und Albtraum. "Eigentlich wollten wir so was ja nie wieder machen", sagt er. Heise hat Erfahrung mit solchen Projekten. 24h Berlin hat er 2008 zusammen mit dem Regisseur und Produzenten Thomas Kufus in Szene gesetzt und dafür den deutschen Filmpreis bekommen.

"Alle haben gleich ja gesagt"

Nun hat er mit Kufus sein Hauptquartier im Jerusalemer Ambassador Hotel aufgeschlagen. Zu finden ist Heise überall, wo er gebraucht wird, und manchmal auch auf dem Fußboden im Technikraum, wo ihn irgendwann der Schlaf übermannt hat. Doch selbst die Müdigkeit kann die Dynamik und die Leidenschaft nicht verdecken, die Heise in dieses Projekt steckt und mit der er eine Riege von reichlich preisgekrönten Mitstreitern gewonnen hat: Andres Veiel und Dani Levy, Hans-Christian Schmid und Maria Schrader - sie alle sind mit nach Jerusalem gekommen, um als Regisseure mit einem der Teams durch die Stadt zu streifen. "Alle haben gleich ja gesagt", sagt Heise leise.

Jerusalem war für ihn eine logische Wahl nach Berlin: zwei verwundete Städte, auf die die Völker der Welt blicken; in der einen ist die Mauer gefallen, in der anderen ist sie erst vor ein paar Jahren gebaut worden; es gibt Parallelitäten, aber noch mehr Widersprüche. "In Berlin wollten wir hinter dem Alltag das Abenteuer finden", sagt Heise, "in Jerusalem ist es umgekehrt, da geht es um den Alltag hinter der permanenten Krisensituation."

Mitten ins Feuer des Nahostkonflikts

Gezeigt wird das Leben in der Stadt durch die Augen ihrer Bewohner, jenseits all der News und Clips, die fast jeden Tag durch die Nachrichten rauschen. Gesucht wird nach der Wahrheit - und zwar nicht nach einer Wahrheit, sondern nach ganz vielen. Doch das passt längst nicht jedem in dieser Stadt, in der so viele glauben, die Wahrheit nicht nur gepachtet zu haben, sondern sie zu besitzen. Und deshalb sind die Filmemacher gleich mitten hinein geraten ins Feuer des Nahostkonflikts.

Als der palästinensische Publizist und Menschenrechtler Mahdi Abdul Hadi am Morgen wie vereinbart mit Thomas Kufus plus Filmteam in seinem Wohnzimmer im Stadtteil Wadi Al-Joz sitzt, da tobt der Kampf bereits an vielen Fronten. "Es gibt einen riesigen Shitstorm im Internet", sagt Kufus, dazu eine Welle von Zeitungsartikeln, Anrufen und Einschüchterungsversuchen. Die palästinensischen Protagonisten und Mitarbeiter werden als Verräter beschimpft und sollen mit massivem Druck zum Ausstieg aus dem Projekt gebracht werden. Der Vorwurf: Im Film würde Jerusalem der israelischen Diktion folgend als gleichsam normale, vereinte Stadt porträtiert und nicht als besetztes Gebiet.

Gefilmt wird auf vermintem Terrain, und neu sind die Anwürfe und Drohungen nicht, denn schon im vorigen September musste der fest geplante Drehtag abgesagt und das ganze Projekt auf Eis gelegt werden. Doch in der Zwischenzeit, so beteuern die Produzenten, hätten sie alles getan, um die palästinensischen Bedenken auszuräumen: Es gibt kein israelisches Geld mehr in dem Projekt, es gibt exakt so viele palästinensische Filmteams wie israelische, und vor ein paar Tagen ist Kufus sogar noch eigens nach Ramallah gefahren, um sich vom PLO-Generalsekretär ein Unterstützungsschreiben zu holen. Genutzt hat das alles nichts. "Das ist jetzt ein inner-palästinensischer Machtkampf", sagt Kufus, "und das Projekt wird instrumentalisiert." Willkommen also im Alltag von Jerusalem.

Ein paar der palästinensischen Protagonisten sind ausgestiegen, manche fürchteten gar um ihr Leben, ein paar andere müssen später nachgedreht werden.

Mahdi Abdul Hadi aber hat sich nicht bange machen lassen - er will vielmehr die Gelegenheit nutzen, die palästinensische Sicht möglichst breit in den 24-Stunden- Film zu bringen. Deshalb fährt er mit dem Filmteam quer durch die Stadt, die so viele Welten in sich vereint, vorbei an Moscheen, Kirchen und Synagogen, und landet schließlich an seinem alten Haus, aus dem er selbst vor sechs Jahren hinausgeworfen wurde. Direkt vor seiner Toreinfahrt hatten die Israelis jene Betonmauer hochgezogen, die Jerusalem vom Westjordanland trennen soll. "Ich konnte mein eigenes Haus nicht mehr betreten und musste umziehen", ruft er, "plötzlich fühlst du dich wie ein Flüchtling in der eigenen Stadt." Vor 69 Jahren ist er in Jerusalem geboren, und vertreiben lassen will er sich nicht.

Zu seiner Überraschung aber ist der Zugang zum Haus seit kurzem wieder frei. Die Mauer vor dem Tor wurde eingerissen und direkt hinter dem Haus wieder aufgebaut. "Keiner weiß, warum sie verlegt wurde, das wird nach Stimmung entschieden", sagt er. Nun möchte er möglichst bald wieder einziehen. "Es ist ein Risiko", spricht er in die Kamera, "aber wenn wir kein Risiko eingehen, wie sollen wir dann hier leben?"

Vor den Nazis aus Berlin geflüchtet

Auf der anderen Seite der Stadt, fern von der Mauer und fern von diesem Konflikt, lebt Ruth Bach. 90 Jahre ist sie alt, aufgewachsen in Berlin und geflüchtet vor den Nazis. Seit 73 Jahren lebt sie in derselben Wohnung im wunderschönen Rehavia- Viertel, von hier ist sie zur Arbeit gegangen als Sekretärin des legendären Bürgermeisters Teddy Kollek. Das Filmteam um die Regisseurin Regina Schilling begleitet sie durch den Tag bis in die späten Abendstunden, wenn sie nicht einschlafen kann und durch ihren Fernseher in die Welt da draußen blickt.

Am Nachmittag kommt wie so oft ihr Bruder zu Besuch. Es ist Gabriel Bach, der berühmt ist, weil er vor mehr als 50 Jahren einer der Ankläger im Prozess gegen Adolf Eichmann war. Die beiden sitzen im Wohnzimmer und reden von früher, von den Ferien in der Schweiz, von den Gräuel der Nazis, von den Anfängen in Jerusalem. Nur von der heutigen Politik, da möchten sie nicht sprechen. Es ballt sich so viel Geschichte an diesem Ort, wie soll da noch Platz sein für die Gegenwart. "Ich bin überzeugt, dass es am Schluss zum Frieden kommen wird", sagt Gabriel Bach knapp. Dann vertieft er sich ins Schachspiel mit seiner Schwester.

Mahdi Abdul Hadi auf seinem Weg zwischen zwei Wohnungen, und Ruth Bach mit ihrem Bruder auf der Wohnzimmercouch - zwei Einblicke ins Jerusalemer Leben sind das, die jeweils ein Mosaiksteinchen bilden für das Porträt dieser Stadt. Ein Jahr Arbeit im Schneidraum liegt nun vor den Filmemachern, doch es wird kein glattes Mosaik herauskommen, in dem die Steine alle aneinanderpassen. Lücken wird es geben und Brüche, harte und spitze Kanten. Denn so ist das Leben an jedem einzelnen Tag in Jerusalem.

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Quelle:
SZ vom 20.04.2013/mkoh
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