Das Magazin "Nokta", das türkische Äquivalent zum "Spiegel", wird nicht mehr gedruckt. Und die Polizei führt Reporter ab. Einfach so.
Am Freitagmorgen schickte eine Journalistin an ihre Kollegen eine SMS: "Das Management verkündet gerade, dass wir ab sofort nicht mehr verlegt werden. Wir sollen unsere Sachen packen und die Büros räumen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie traurig ich bin." Mit anderen Worten: Nokta, das türkische Äquivalent zum Spiegel, gibt es nicht mehr. Der unabhängige Journalismus, die investigativen Stücke, die scharfen Kommentare von Perihan Mağden und Gükhan Özgün - vorbei. Meine Kollegin zitierte noch die Begründung des Managements: "Wir finden keine Druckerei mehr." Wenn man sich ansieht, wie durch den Ausnahmezustand ganz grundsätzliche Freiheiten beschnitten werden, überrascht das kaum.
Türkisches TagebuchYavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1958 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Alex Rühle.
Was bitte sollen die Medien mit dem Staatsstreich zu tun gehabt haben?
Paolo Brera, ein Reporter der italienischen Tageszeitung La Repubblica, wurde am Donnerstagabend von Polizisten nahe der Blauen Moschee festgenommen, während er Touristen interviewte, und aufs Revier mitgenommen. Anfangs wusste niemand, wo er ist, und die italienische Regierung musste auf höchster Ebene intervenieren, damit er nach vier Stunden wieder freigelassen wurde.
Während ich diesen Text schreibe, am Freitagmittag, ist unklar, was aus dem Kolumnisten und Menschenrechtsanwalt Orhan Kemal Cengiz wurde. Cengiz ist eine internationale Figur, ein enger Freund des kurdischen Anwalts Tahir Elçi, der im vergangenen Sommer in Diyarbakır ermordet wurde. Cengiz, der unter anderem den Fall der christlichen Missionare untersucht hat, die 2007 in Malatya hingerichtet wurden, hat kürzlich vor dem Menschenrechtsrat in Genf von diesem Fall erzählt. Seine Kollegen warten auf ein Lebenszeichen, sie wissen, dass er in den Gebäuden der Anti-Terror-Einheiten in Istanbul festgehalten wird.
Seiner Frau, die auch Juristin ist, wurde gesagt, dass seine Verhaftung mit einem Fall von 2014 zu tun habe, aber niemand weiß Genaueres. Der Ausnahmezustand bedeutet auch, dass nur noch Anwälte, die von der Anwaltskammer bestimmt werden, Zugang zu den Verhafteten haben. Ansonsten ist noch bekannt, dass alle Verhafteten in Zellen der Polizeistationen festgehalten werden.
Die Gesamtsituation ist völlig unübersichtlich
Justizminister Bekir Bozdağ sagte in einem Interview, dass die Verdächtigen bei "Verbrechen in Zusammenhang mit Terrorismus" mindestens sieben bis acht Tage in Untersuchungshaft bleiben können. "Wir untersuchen gerade, ob wir diesen Zeitraum ausdehnen können", sagte er und fügte an, es sei tatsächlich schwierig herauszubekommen, wer unschuldig und wer ein Krimineller sei.
Die Gesamtsituation ist völlig unübersichtlich. Es gibt kaum Informationen, aber es herrscht große Angst, dass immer noch härter durchgegriffen wird, ohne dass irgendjemand versteht, was die Medien und die Forschungsfreiheit mit dem Staatsstreich zu tun gehabt haben sollen.
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)