Türkisches Tagebuch (V):Ausnahme ist kein Zustand

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Das Magazin "Nokta", das türkische Äquivalent zum "Spiegel", wird nicht mehr gedruckt. Und die Polizei führt Reporter ab. Einfach so.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Am Freitagmorgen schickte eine Journalistin an ihre Kollegen eine SMS: "Das Management verkündet gerade, dass wir ab sofort nicht mehr verlegt werden. Wir sollen unsere Sachen packen und die Büros räumen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie traurig ich bin." Mit anderen Worten: Nokta, das türkische Äquivalent zum Spiegel, gibt es nicht mehr. Der unabhängige Journalismus, die investigativen Stücke, die scharfen Kommentare von Perihan Mağden und Gükhan Özgün - vorbei. Meine Kollegin zitierte noch die Begründung des Managements: "Wir finden keine Druckerei mehr." Wenn man sich ansieht, wie durch den Ausnahmezustand ganz grundsätzliche Freiheiten beschnitten werden, überrascht das kaum.

Was bitte sollen die Medien mit dem Staatsstreich zu tun gehabt haben?

Paolo Brera, ein Reporter der italienischen Tageszeitung La Repubblica, wurde am Donnerstagabend von Polizisten nahe der Blauen Moschee festgenommen, während er Touristen interviewte, und aufs Revier mitgenommen. Anfangs wusste niemand, wo er ist, und die italienische Regierung musste auf höchster Ebene intervenieren, damit er nach vier Stunden wieder freigelassen wurde.

Während ich diesen Text schreibe, am Freitagmittag, ist unklar, was aus dem Kolumnisten und Menschenrechtsanwalt Orhan Kemal Cengiz wurde. Cengiz ist eine internationale Figur, ein enger Freund des kurdischen Anwalts Tahir Elçi, der im vergangenen Sommer in Diyarbakır ermordet wurde. Cengiz, der unter anderem den Fall der christlichen Missionare untersucht hat, die 2007 in Malatya hingerichtet wurden, hat kürzlich vor dem Menschenrechtsrat in Genf von diesem Fall erzählt. Seine Kollegen warten auf ein Lebenszeichen, sie wissen, dass er in den Gebäuden der Anti-Terror-Einheiten in Istanbul festgehalten wird.

Seiner Frau, die auch Juristin ist, wurde gesagt, dass seine Verhaftung mit einem Fall von 2014 zu tun habe, aber niemand weiß Genaueres. Der Ausnahmezustand bedeutet auch, dass nur noch Anwälte, die von der Anwaltskammer bestimmt werden, Zugang zu den Verhafteten haben. Ansonsten ist noch bekannt, dass alle Verhafteten in Zellen der Polizeistationen festgehalten werden.

Die Gesamtsituation ist völlig unübersichtlich

Justizminister Bekir Bozdağ sagte in einem Interview, dass die Verdächtigen bei "Verbrechen in Zusammenhang mit Terrorismus" mindestens sieben bis acht Tage in Untersuchungshaft bleiben können. "Wir untersuchen gerade, ob wir diesen Zeitraum ausdehnen können", sagte er und fügte an, es sei tatsächlich schwierig herauszubekommen, wer unschuldig und wer ein Krimineller sei.

Die Gesamtsituation ist völlig unübersichtlich. Es gibt kaum Informationen, aber es herrscht große Angst, dass immer noch härter durchgegriffen wird, ohne dass irgendjemand versteht, was die Medien und die Forschungsfreiheit mit dem Staatsstreich zu tun gehabt haben sollen.

© SZ vom 23.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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