Süddeutsche Zeitung

Türkisches Tagebuch (II):Der Türkei droht das Ende des unabhängigen Journalismus

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Newsseiten werden abgeschaltet, kritische Journalisten verfolgt und entlassen: Mit dem Generalangriff auf unabhängige Medien ist in der Türkei eine dunkle Epoche angebrochen.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar, Istanbul

Kritische türkische Journalisten, Wissenschaftler und Rechtsexperten erleben Tage voller Ungewissheit, Sorgen und Angst. Es gibt derzeit schlicht keine Hinweise darauf, dass grundlegende Freiheitsrechte und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit garantiert sind. Stattdessen deuten jüngste Statements des türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan und seines Premierministers Binali Yıldırım darauf hin, dass die Todesstrafe wieder eingeführt werden soll.

Die kompromisslos unabhängige Reporterin und Rechtsexpertin Arzu Yıldız war am Montag eine der Ersten, die den Politikwechsel zu spüren bekam. Am frühen Montagmorgen kam die Polizei mit einem unbegründeten Haftbefehl in ihre Wohnung, konnte sie allerdings nicht finden. In einem Twitter-Kommentar erklärte sie später, dass sie sich der Polizei ergeben hätte, weil sie nichts zu verbergen habe. Danach hörte man nichts mehr von ihr.

Viele Kollegen, mit denen ich gesprochen habe, sind wie ich der Ansicht, dass die Obrigkeit genau weiß, warum sie eine Journalistin wie Arzu Yıldız zum Schweigen bringen will: Die Regierung will die Wahrheit hinter all den Haftbefehlen für Richter und Staatsanwälte vertuschen. Viele von ihnen kennt Arzu Yıldız persönlich und weiß deshalb genau, welche Ansichten sie vertreten.

Nur ein paar Stunden nachdem der Putschversuch gescheitert war, tauchte eine lange Liste mit Journalisten auf, die verhaftet werden sollen. Die meisten von ihnen sind liberale und linke Chefredakteure und Kolumnisten, die für Zeitungen wie Özgür Düşünce, Yarına Bakış oder Yeni Hayat geschrieben haben. Sie alle werden nun beschuldigt, Teil der Erdoğan-kritischen Gülen-Bewegung zu sein. Auch Can Dündar, Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, ist ins Visier der Behörden geraten.

Seit dem Ende des blutigen Putschversuchs wurden mehr als zehn türkische News-Webseiten abgeschaltet. In der Nacht von Montag auf Dienstag wurde berichtet, dass sich - ohne Begründung - verschiedene Druckereien weigerten, die Zeitungen Yarına Bakış und Yeni Hayat zu drucken. Die betroffenen Redaktionen vermuten, dass dahinter politischer Druck und die Furcht vor Repressionen steckt. Yarına Bakış berichtete in ihrem Online-Angebot, dass versucht werde, sie zu zwingen, ihre gedruckte Ausgabe einzustellen. Unter massivem Druck steht offenbar auch die Tageszeitung Özgür Düşünce, die viele verfolgte Kolumnisten beschäftigt, und nun erwägt, ihre gedruckte Ausgabe einzustellen. Die unabhängige Webseite Haberdar, die den Putschversuch als erste meldete, soll ihren Newsroom geschlossen und Mitarbeiter entlassen haben.

Unter den drangsalierten kritischen Journalisten und ihren ausländischen Kollegen sind sich alle einig, dass eine dunkle Epoche angebrochen, vielleicht sogar das Ende des unabhängigen Journalismus gekommen sei. Viele befürchten, dass ein Generalangriff auf alle türkischen und kurdischen Medien unmittelbar bevorsteht. Und dass danach ein unabhängiges Medium nach dem anderen schließen muss. Journalisten, die finanziell ohnehin schon kaum über die Runden kommen und denen Arbeitslosigkeit droht, werden als "öffentliche Feinde" und "Parias" beschimpft. Sie werden keine Abnehmer mehr für ihre Geschichten finden. Die Lage könnte ernster nicht sein.

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Quelle:
SZ vom 20.07.2016
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