"Die Medien haben sich verkauft! Die Medien haben sich verkauft!" Diesen Spruch skandieren mehrere Tausend Protestierende vor dem Büro von NTV. Sie werfen dem Nachrichtensender vor, die Aufstände rund um den Gezi-Park in Istanbul zu lange verschwiegen zu haben.
Die Protestierenden fühlen sich von der Presse im Stich gelassen. Als die Proteste in Istanbul begannen und die Polizei friedliche Demonstranten mit reichlich Pfefferspray und Tränengas eindeckte, sendete zwar CNN International Livebilder vom Taksim-Platz. Der türkische Ableger CNN Türk hatte jedoch Putzigeres im Programm: kleine Pinguine, die durch die Antarktis watscheln.
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Irgendwann hat es den Demonstranten gereicht. Die Slogans, mit denen die großen Nachrichtensender gerne für ihre eigene Berichterstattung werben, texteten sie einfach um. NTV, der "Haber kanali" (dt.: Nachrichtensender), wurde zum "Bihaber kanali". Die zwei Buchstaben verändern die gesamte Bedeutung. NTV wird so zum Sender, der "keine Ahnung von nichts" hat. Auch die CNN-Türk-Botschaft ändern die Regierungskritiker von "Seien Sie die Ersten, die es erfahren" in "Seien Sie die Ersten, die es verschweigen."
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Und ebenso, wie die Proteste Hintergründe haben, die über ein unpopuläres Bauvorhaben weit hinausgehen, ist die Medienkritik das Resultat einer langen Entwicklung. Denn die Situation der türkischen Presse ist schwierig. Laut der amerikanischen Organisation "Comittee to Protect Journalists" liefen im Jahr 2011 knapp 5000 Verfahren gegen türkische Journalisten. Die Türkei ist außerdem das Land, in dem weltweit die meisten Journalisten im Gefängnis sitzen - mehr als in China oder in Iran.
Die Paragrafen im Strafgesetzbuch sind bewusst abstrakt gehalten. Es kann schon reichen, Dokumente zu erhalten oder einen "gerichtlichen Prozess zu beeinflussen", um juristisch belangt zu werden. Was genau diese Beeinflussung sein soll, bleibt undefiniert. Im Zweifel kann es auch eine simple journalistische Anfrage sein. Die türkischen Nachrichtenseiten sind also in einer schwierigen Position - nicht erst seit den jüngsten Protesten. Das beweisen eindrucksvoll zwei Beispiele.
- Am 11. Mai explodieren mehrere Bomben in der Kleinstadt Reyhanli, 51 Menschen sterben. Und die türkische Presse? Schreibt nichts. Denn die Regulierungsbehörde für Radio und Fernsehen hat nach dem Anschlag eine Anordnung veröffentlicht: Über die Vorfälle wird anfangs nicht berichtet; nicht schriftlich, nicht bildlich, einfach gar nicht. Zwei Journalisten widersetzen sich den Anweisungen, machen Fotos und werden kurzerhand festgenommen, ihre Kameras konfisziert.
- Ende 2011 sieht der Journalist Serdar Akinan auf Twitter Meldungen über Luftangriffe im mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiet Uludere. 35 Menschen sollen gestorben sein. Im Fernsehen jedoch ist nichts zu sehen. Also ruft Akinan ein paar TV-Kollegen an und fragt: "Was ist los in Uludere?" Die Antwort der Kollegen: "Ja, die Informationen stimmen." Akinan erzählt, seine Kollegen wollten auf ein Statement der Regierung warten. Später wird die Regierung einräumen, dass der Luftangriff möglicherweise "ein Versehen" sei. Doch direkt nach der Attacke berichtet keiner der TV-Anstalten. Also reist Akinan selbst nach Uludere, twittert Bilder von einer Massenbeerdigung und tritt schließlich damit die öffentliche Berichterstattung los. Ein Erfolg? Wie man's nimmt. Kurze Zeit später muss seine Zeitung Stellen streichen. Akinan ist er einer der Ersten, der fliegt.
Der Staat, das verdeutlichen die Beispiele, hat die Presse fest im Griff und kontrolliert die Informationen, die Medien verbreiten. Bereits 2009 hat Premier Erdogan die größte Medienagentur des Landes (Dogan Group) mit Al Capone verglichen und sie zu einer Strafe von zwei Milliarden Euro verdonnert. Zur Dogan Group gehört die auflagenstarke Tageszeitung Hürriyet und der türkische Ableger von CNN. Viele Medien, das zeigt das zweite Beispiel, zensieren sich aus Angst deswegen selbst.
Kein Wunder also, dass die Türken ihren Medien misstrauen - und sich lieber auf soziale Netzwerke und Blogs verlassen. Die Nachrichten über die Bomben in Reyhanli verbreiteten Regierungskritiker unter dem Hashtag #Twitterkurds auf Twitter. Kurdische Aktivisten haben diesen Suchbegriff bereits vor Jahren etabliert, weil sie kritisieren, dass türkische Medien überhaupt keine Berichte zulassen würden, in denen es um Kurden geht.
Auch während der jüngsten Proteste laufen die Nachrichten zuerst über Social Media: Über Facebook-Seiten, über die Blogging-Plattform Tumblr und über Hashtags wie #occupygezi auf Twitter.
Dabei mischen sich tatsächliche Nachrichten allerdings mit Gerüchten und falschen News. Zum Beispiel versendeten viele Aktivisten ein Bild von der Bosporus-Brücke, das zeigen sollte, dass eine unüberschaubare Menschenmasse sich auf dem Weg zum Taksim-Platz befinde, um die Demonstranten zu unterstützen. Tatsächlich handelte es sich um ein Foto eines Marathonlaufes aus dem Jahr 2012. Auch das Gerücht, dass die Polizei "Agent Orange" einsetzen würde, schwirrte durch die Netzwerke - jenes gesundheitsschädigende Entlaubungsgift, das die Vereinigten Staaten im Vietnamkrieg verwendet haben.
Doch trotz all der Fehlinformationen: Die am meisten über soziale Netzwerke verbreitete Analyse zu den Protesten stammt von einer türkischen Bloggerin und Yoga-Lehrerin, die aktuell nicht einmal in der Türkei ist. In ihm führt die Autorin aus, dass es bei den Protesten um viel mehr ginge als um einen grünen Park, ein unbeliebtes Bauvorhaben. So eine Analyse hätten die Aktivisten eigentlich von ihren Medien erwartet. Stattdessen bekamen sie Pinguine.