Türkische Chronik (VI):Sanktionen als Nachteil für türkischen Staat

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Wer steckt hinter dem blutigen Versuch, den Staat zu stürzen? Altans Worte verstärkten die Fragezeichen, die ich hier in meinem Tagebuch auch aufgeworfen habe. Mehr als zwei Monate sind vergangen, und wir sind in einen Ausnahmezustand gelangt mit all seinen brutalen Konsequenzen. Sowohl die Gülen-Bewegung als auch die PKK werden als "zwei Mütter des Bösen" gesehen, um die Massenverhaftungen zu rechtfertigen, ohne dass es eindeutige Beweise gäbe.

Die Nebelwand wird mit den Entwicklungen nur noch dichter. In meinem letzten Tagebucheintrag habe ich betont, dass es hartnäckige Behauptungen gibt, die Folter sei in türkische Polizeistationen und Gefängnisse zurückgekehrt. Es ist vielleicht keine Überraschung, dass Ankara im letzten Moment den Besuch eines Abgesandten der UN verschoben hat. "Ich sehe ein, dass die Entwicklungen in der Türkei während der letzten Monate die volle Aufmerksamkeit der Regierung benötigen. Zugleich glaube ich aber, dass die kurzfristige Verschiebung meines Besuchs das falsche Signal aussendet", sagte der Sonderberichterstatter der UN für Folter, Juan E. Méndez. "Im Lichte der Tausenden Verhaftungen" und schlechter Haftbedingungen sei sein Besuch von höchster Wichtigkeit.

Die AKP wird mit dem Ausnahmezustand einen hohen Preis zahlen

All das findet vor dem Hintergrund des Ausnahmezustands statt, und Präsident Erdoğan lässt wenig Zweifel daran, dass er ihn verlängern will, möglicherweise auf Dauer. Er hat wahrscheinlich bemerkt, wie effizient es ist, das riesige Land mit außerplanmäßigen Mitteln zu regieren. Es gibt den Regierenden einen großen Hammer in die Hand und es macht es ihnen einfach, jedes Problem als einen Nagel zu betrachten, auf den man einschlagen muss. Auf der anderen Seite ist schon jetzt klar - sieht man sich die Fülle drakonischer Sanktionen seit Ende Juli an -, dass die AKP mit dem Ausnahmezustand einen extrem hohen Preis für ihre Zukunft zahlen wird, und dass er zudem zerstörerisch auf die Türkei wirkt.

Ein schneller Blick auf die Zahlen reicht dazu aus. Laut der Website Turkey Purge wurden die staatlichen Institutionen von 100 482 Menschen "gesäubert". 42 984 von ihnen wurden inhaftiert, 23 770 wurden in Untersuchungshaft genommen. 19 Universitäten, 1254 Vereine und Stiftungen, 2099 Schulen und Internate wurden geschlossen. 3465 Richter und Staatsanwälte, mehr als 11 000 Lehrer wurden gefeuert. Medienhäuser wurden in Beschlag genommen und geschlossen. 122 Journalisten sind im Gefängnis, 2308 haben ihren Job verloren. Ein besonders dramatischer Teil der Sanktionen ist die Beschlagnahme - manche Kritiker nennen es Plünderungen - von Vermögen und Besitz hauptsächlich von Angehörigen der Gülen-Bewegung. Ein Wissenschaftler hat mir kürzlich erzählt, dass diese Maßnahmen insgesamt zwei Millionen Menschen betreffen, wenn man die Verwandten und Familien mit berücksichtigt.

Diejenigen, die "gesäubert" und unterdrückt wurden, werden nicht ruhig dasitzen und schweigend zusehen. Die wichtigsten Prozesse werden am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und am Internationalen Schiedsgerichtshof geführt werden. Anwälte glauben, dass das Endergebnis zum krassen Nachteil des türkischen Staates ausfallen könnte, mögen die Prozesse auch Jahre dauern.

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