Türkische Chronik (VI):"Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen"

Cumhuriyet

Vor der Redaktion der Zeitung Cumhuriyet protestiert ein Mann gegen die Verurteilung der Redakteure Can Dündar und Erdem Gul.

(Foto: dpa)

Verdiente Journalisten treffen sich in der Türkei gerade zum bizarren "Meet and Greet" - vor Gericht.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Der Tag, an dem die Entwicklung in der Türkei unerträglich wurde, war ein Mittwoch, und das Epizentrum der Ereignisse war - wieder einmal - das große zentrale Gerichtsgebäude in Istanbul. Ein Raum nach dem anderen füllte sich mit Journalistengruppen, die wegen "krimineller Akte" gegen die Regierung angeklagt waren. In einem dieser Räume saß Erdem Gül, der Büroleiter der Cumhuriyet in Ankara, der bereits zusammen mit dem ehemaligen Chefredakteur Can Dündar zu fünf Jahren Gefängnishaft verurteilt worden war, wegen "Beschaffung und Verrat von Landesgeheimnissen". Diesmal war er hier wegen "absichtlicher Hilfe und Begünstigung terroristischer Organisationen ohne Mitgliedschaft", weil er Nachrichten über Lastwagen der Geheimdienste veröffentlicht hat, die, so stand es in der Geschichte, große Mengen Waffen zu dschihadistischen Gruppen in Syrien transportierten. In den Fall wurde eine dritte Person einbezogen: Enis Berberoğlu, heute ein Abgeordneter der wichtigsten Oppositionspartei CHP (und ein ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Hürriyet). Vor ein paar Wochen hatte er bekannt gemacht, dass er es war, der Dündar und Gül die Unterlagen vermittelt hatte.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge. Deutsch von Jonathan Horstmann.

In einem anderen Raum war eine Gruppe von Journalisten zusammengekommen, um den Prozess gegen ihre Kollegen zu beobachten. In einem Solidaritätsakt waren sie abwechselnd als symbolische Chefredakteure für einen Tag für die prokurdische Tageszeitung Özgür Gündem eingestanden, die vor einem Monat geschlossen worden war. Der Prozess wird lange andauern, mehr als 25 prominente Journalisten haben an dem Akt teilgenommen und sind jetzt wegen "Beihilfe und Begünstigung des Terrors" angeklagt.

Ein 72-jähriger altgedienter Journalist, Hasan Cemal, Gewinner des prestigeträchtigen Louis Lyons Award aus Harvard, war in den frühen Morgenstunden angekommen. Er stand vor dem Richter wegen Präsidentenbeleidigung in einem Artikel vom Anfang dieses Jahres, der den Titel trug: "Mit Erdoğan, der die Verfassung jeden verdammten Tag bricht". Dafür erwartet ihn eine ein- bis vierjährige Gefängnishaft. Es wurde zu einem Tag des bizarren "Meet and Greet" für verdiente Journalisten, die kleine Gruppe der Tapferen in der Türkei. Das große Gerichtsgebäude von Istanbul trat dabei an die Stelle eines Cafés in der Nähe des Taksim-Platzes oder eines Restaurants am Bosporus-Ufer.

"Wir sollten nicht länger selbst zum Gegenstand der Nachrichten werden"

"Unsere Arbeitsschicht findet hier statt", sagte Erdem Gül ironisch. "Wir sehen heute hier meine Kollegen Überstunden machen. Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen. Wir sollten nicht länger selbst zum Gegenstand der Nachrichten werden. Wir sollten uns selbst wieder um die Nachrichten kümmern können." Und Hasan Cemal fragte: "Wie können wir in unserem Land Freiheit haben, wenn die Gerichtssäle überfüllt sind mit Journalisten?"

Der Mittwoch wurde ein langer Tag. Am Nachmittag wurden zwei Männer durch die Hintertüren in das Gerichtsgebäude gebracht: die Brüder Ahmet und Mehmet Altan, zwei prominente, liberale Schriftsteller und Kolumnisten, deren zwölftägiger Arrest einen internationalen Aufschrei verursacht hatte. Beinahe 300 renommierte Intellektuelle aus der ganzen Welt hatten ihre sofortige Freilassung gefordert. Beide wurden angeklagt wegen des "Versuchs, die Regierung zu stürzen und terroristische Organisationen zu unterstützen". Ihre Befragung dauerte bis zum frühen Donnerstagmorgen, während die Journalistenkollegen schlaflos warteten. Sie konnten den Gerichtssaal nicht betreten, die Türen waren von innen versperrt, ihre Akten als geheim klassifiziert worden. Im Morgengrauen war klar, dass Mehmet Altan inhaftiert werden würde, während sein älterer Bruder Ahmet mit der Auflage zu "gesetzlicher Beobachtung" freigelassen wurde und nicht ins Ausland reisen darf.

Als Ahmet Altan vor dem Gebäude auf Fragen antwortete, erinnerte er an Franz Kafka. "Die Meinung selbst steht hier vor Gericht", sagte er. Man werde danach befragt, was man glaube und wovon man überzeugt sei. "Sonst fällt ihnen nichts zu fragen ein. Dieses ganze sogenannte Justizsystem, die Anschuldigungen führen nirgendwo hin." Die Verhaftungen verhinderten alle ernsthaften Untersuchungen über den versuchten Staatsstreich vom 15. Juli. Altan sagte, eine unbekannte Macht wolle aus irgendeinem Grund verhindern, dass aufgedeckt wird, wie dieser Coup zustande kam. Die Verhaftung von Mehmet Altan habe zwei Ziele: Zum einen werde jeder, der die politische Macht kritisiere, jetzt als ein Putschist gebrandmarkt. Zum anderen wollten die Regierenden nicht tiefer in die Untersuchung des Coups einsteigen, weil man befürchte, dass dies zu Spuren führe, die nicht öffentlich werden sollen. Altan schloss seine Rede: "Sie werden uns sagen, ihr werdet uns nicht mehr kritisieren. Und wir sagen, natürlich werden wir euch kritisieren, wir haben keine Angst vor euch. Ich weiß, was Gefängnis bedeutet und wenn es notwendig ist, werde ich erneut dorthin gehen."

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