"Töte zuerst" auf Arte:Wo keine Kamera hätte sein dürfen

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Eine Szene aus dem Dokumentarfilm "Töte zuerst - Der israelische Geheimdienst". (Foto: dpa)

Sechs ehemalige Chefs des israelischen Inlandsgeheimdienstes brechen ihr Schweigen. Mit überraschendem Ergebnis. Arte zeigt die oscarnominierte Dokumentation "Töte zuerst" erstmals in Deutschland - und Israels Premier Netanjahu will sie lieber gar nicht sehen.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Im Alter von 68 Jahren zum Protagonisten in einem Film zu werden, das hätte Ami Ayalon wohl selbst nicht erwartet. Gewiss, sein kantiger Kahlkopf ist kameratauglich, er ist ein Mann mit unbestreitbarer Aura, und ohne Zweifel hat er viel zu sagen. Doch wichtige Teile seines Lebens spielten da, wo niemals eine Kamera hätte hinschauen und nie ein Mikrofon hätte eingeschaltet werden dürfen: Ami Ayalon war von 1996 bis 2000 Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, verpflichtet zum klandestinen Handeln und zum eisernen Schweigen. Doch das Schweigen hat er gebrochen in aller Öffentlichkeit, und seitdem hallt seine Warnung wider in den Kinos und nun auch hier in dieser Raststätte im Norden Israels, die er für ein Treffen vorgeschlagen hat: "Wir sitzen auf einer Bombe", sagt er mit lauter Stimme, "und die Zeit für eine Lösung läuft ab."

Die Bombe - das ist der Konflikt mit den Palästinensern im besetzten Westjordanland, der im Zentrum aller Arbeit der Schin-Bet-Agenten steht. Zusammen mit fünf anderen ehemaligen Chefs des Geheimdienstes hat Ayalon darüber nun erstmals Auskunft erteilt in der Aufsehen erregenden Dokumentation The Gatekeepers des israelischen Filmemachers Dror Moreh. Er war in diesem Jahr für einen Oscar nominiert, und nur eine Woche später wird er nun als NDR-Koproduktion unter dem Titel Töte zuerst im deutschen Fernsehen gezeigt.

Es ist ein Film mit einem überraschenden Ansatz und einem noch überraschenderen Ergebnis. Denn die Männer, die in den vergangenen 30 Jahren den Geheimdienst geleitet haben, geben nicht nur Einblick in ihre Arbeit, sondern ziehen unisono ein entlarvendes Fazit: Das Besatzungsregime über die palästinensischen Gebiete erscheint als unmoralisch, ineffizient und kontraproduktiv. "Wir sind grausam geworden", sagt im Film Avraham Schalom, der dem Schin Bet von 1981 bis 1986 vorstand. "Wir machen das Leben von Millionen Menschen unerträglich", sagt Carmi Gilon, der 1995/96 verantwortlich war. "Man kann keinen Frieden mit militärischen Mitteln schaffen", urteilt Avi Dichter, der den Geheimdienst während der zweiten Intifada von 2000 bis 2005 führte.

"Wir müssen die Besatzung beenden"

"Es ist kein leichter Film für uns", sagt Ami Ayalon, "persönlich und kollektiv hat er uns in sehr sensible Bereiche geführt." Doch keiner von ihnen bereue heute seine Beteiligung, gemeinsam sahen sie die Zeit gekommen für einen Weckruf an die Politik und die israelische Gesellschaft, in der das Problem mit den Palästinensern heute schlicht verdrängt oder ignoriert werde. "Wir müssen die Besatzung beenden", sagt Ayalon, "das ist der einzige Weg, um Israel als jüdische Demokratie zu retten."

So spricht ein Patriot, dem niemand vorwerfen kann, dass er als linker Friedensfreund das Vaterland feige an den Feind verhökern will. "Ich war 40 Jahre lang Mitglied des israelischen Sicherheitsapparats", sagt er, "ich habe gekämpft und getötet - das ist nicht gerade eine Linken-Karriere." Der Schin Bet ist schließlich ein Laden für die harten Kerle - umrankt von einem Mythos, der dem des Mossad gewiss nicht nachsteht. Seit dem Beginn der Besatzung 1967 ist der Inlandsgeheimdienst sogar ins Zentrum der Gefahrenabwehr für den jüdischen Staat gerückt. Die 5000 Mitarbeiter sind für den Kampf gegen den palästinensischen Terror ebenso zuständig wie für den Personenschutz von Politikern und die Sicherheit der Fluglinie El Al. Zimperlich gehen sie dabei nicht ans Werk. Gezielte Tötungen oder Verhöre unter äußerstem Druck gehören zum Tagesgeschäft. "Das Leben ist kein Picknick", sagt Ami Ayalon. Doch niemals vor diesem Film haben die verantwortlichen Akteure über ihr eigenes Handeln öffentlich räsoniert.

"Es war nicht einfach, sie zu überzeugen", sagt Dror Moreh, der dreieinhalb Jahre lang an diesem Film gearbeitet hat. Als ersten hat er Ayalon kontaktiert, dann die anderen. "Wenn du zwei oder drei im Boot hast, geht der Rest leichter", sagt er mit entspanntem Lächeln. Den letzten, Juval Diskin, der den Schin Bet bis 2011 leitete, hat er noch in seinem Dienstzimmer in Tel Aviv aufgesucht. "Er hat nur eine Frage gestellt: Warum willst du den Film aus unserer Sicht machen?", erinnert sich Moreh. "Ihr versteht den israelisch-palästinensischen Konflikt besser als alle anderen", hat er geantwortet, "ihr lebt ihn Tag für Tag und könnt am besten beschreiben, was all die Jahre passiert ist."

Wie sie das beschreiben, das ist außergewöhnlich ehrlich. Man spürt den kalten Stolz, wenn über die gezielte Tötung des Hamas-Bombenbauers Yahya Ayasch gesprochen wird, dem ein vom Schin Bet mit Sprengstoff präpariertes Handy direkt am Ohr zum Verhängnis geworden war. "Ein schöner Einsatz, sehr sauber, elegant", schwärmt Carmi Gilon im Film. Man hört aber auch das leise Erschrecken, wenn beim Abwurf einer 1000-Kilo-Bombe auf ein Wohnhaus neben dem ins Visier genommenen Terroristen auch Frauen und Kinder sterben. "Wenn du anfängst, solche Taten zu begehen, dann entwickelt das eine Eigendynamik, und du fragst dich selbst seltener, wo du aufhören sollst", sinniert Ami Ayalon.

Mehr als alles andere aber spürt man die Ratlosigkeit, die sich bis zur bitteren Abscheu steigern kann. "Es gibt keine Strategie, nur Taktik", klagt der alte Avraham Schalom in der Doku, vor dem früher nicht nur der Feind erzitterte, sondern auch die eigenen Leute. Er klagt gar über eine "brutale Besatzungsarmee, die den deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg ähnelt" - und er weiß, das dies für einen Juden, der 1928 in Wien geboren wurde und mit der Familie vor den Nazis fliehen musste, ein fast unerhörter Vergleich ist.

Frei von Schuld ist auch er selbst nicht geblieben. Seinen Posten musste er 1986 nach einem Skandal räumen, bei dem es um einen amtlichen Lynchmord ging. Vier Palästinenser hatten in Tel Aviv einen Bus der Linie 300 entführt. Bei der Erstürmung wurden zwei der Terroristen erschossen, zwei gefangen genommen - am nächsten Morgen jedoch wurde der Tod von allen vieren vermeldet. Zwei waren im Gewahrsam des Schin Bet getötet worden, und Schalom hatte den Befehl gegeben, "den Job zu erledigen".

"Die schwierigsten Momente für mich"

Bedauern zeigt er nicht, nur Ärger über die Medien, die die Geschichte aufbrachten, und über die Politiker, die ihn fallen ließen. "Und die Moral?", fragt die Stimme von Dror Moreh aus dem Off. "Wenn es um Terror geht, gibt es keine Moral", antwortet Schalom.

"Das waren die schwierigsten Momente für mich, wenn ich sie mit der moralischen Frage konfrontierte", sagt Moreh, "aber ich hatte nie das Gefühl, dass sie versuchen, sich weißzuwaschen." Tatsächlich entwickelt der 51-Jährige in seinen Interviews, die mit faszinierendem Archivmaterial sowie nachgedrehten Filmszenen unterlegt werden, eine spezielle Atmosphäre, in der jenseits wohlfeiler Entrüstung oder dem Zwang zur Rechtfertigung über die Arbeit des Schin Bet gesprochen wird. Die Geheimdienst-Chefs geben dabei Einblick in eine sehr spezifische Form der Verantwortungsethik, in der jeder Wert einen Preis hat - und dieser Preis ist zumeist in Menschenleben zu beziffern.

"Ich bewundere ihre Ehrlichkeit", sagt Moreh über seine Protagonisten - und auch im Nachhinein hat er sich auf ihre Aufrichtigkeit verlassen können. Als aus der israelischen Regierung heraus versucht wurde, seinen Film als zugespitztes Machwerk abzuwerten, da standen die sechs ehemaligen Geheimdienstchefs wie ein Mann hinter ihm. Rückenwind bekommt er zudem durch das große internationale Echo. "Für die Regierung in Israel wird der Film zum Problem", glaubt Dror Moreh. Schließlich könne sie es "nicht einfach wegwischen", wenn alle noch lebenden Ex-Geheimdienstchefs ihre verfehlte Politik anprangern und zu einem Friedensschluss mit den Palästinensern aufrufen.

Premierminister Benjamin Netanjahu hat allerdings über einen Sprecher ausrichten lassen, dass er nicht beabsichtige, die Dokumentation anzuschauen. "Das sagt nichts aus über den Film", meint Moreh - "aber sehr viel über Netanjahu."

Töte zuerst , Arte, 20:15 Uhr und ARD, 6. März, 22:45 Uhr.

© SZ vom 05.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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