Aldi Nord will derzeit auf Tiktok zu einer Tanzchallenge animieren. Angesichts der Omnipräsenz der Plattform eher eine Randnotiz, aber es zeigt vielleicht, wo Tiktok gerade steht. Im Lebenskreislauf der Social-Media-Plattformen hat die App wohl die Teenagerphase verlassen. Momentan ist Tiktok das soziale Netzwerk der Generation Z, also derjenigen, die in etwa bis Anfang Zwanzig sind - aber wie lange noch? Auch Facebook, Whatsapp, Instagram, Snapchat hatten zu Beginn sehr junge Nutzer, die die Plattformen schnell annahmen und groß machten. Bald kamen die älteren Geschwister dazu, dann die Eltern, die Lehrer und alle anderen und spätestens dann war der Zauber vorüber.
Die Düsseldorfer Kreativagentur McCann hat für Aldi Nord einen kurzen Clip produziert, in dem zwei Jungs über die Beats von "Ice Ice Baby" rappen ("Preis, Preis, Baby") und - das ist zentral auf Tiktok - dazu tanzen. Ihre Bewegungen sind so simpel, dass man sie mit ein bisschen Übung nachmachen kann. Die Verlangsamungsfunktion der App, mit der man beim Aufnehmen ein Lied langsamer abspielen kann, um dazu zu tanzen, hilft dabei. Der Clip wurde mehr als 17 Millionen Mal gesehen, etwa 2000 Mal nachgetanzt.
Warum Aldi ausgerechnet auf Tiktok Werbung macht? Marketingdirektor Stefan Michels erklärt: "Tiktok bietet uns als Unternehmen die Möglichkeit, unsere Botschaften auf spielerische Weise bei einer jungen Zielgruppe ganz anders zu platzieren. Gerade zum jetzigen Zeitpunkt haben wir als First Mover die Chance die User mit außergewöhnlichem Content und Call-to-Action Formaten zu überraschen und an uns zu binden."
Bei diesen Worten stellt sich die Frage, wie lange sich Tiktok noch den Charme des Mitmach-Mediums für Challenges und Tanzvideos erhalten kann. Denn darum geht es bei der App. Ständig entstehen neue Challenges und Tänze, deren Ursprung schnell in Vergessenheit gerät. Jalaiah Harmon, eine 14-Jährige aus einem Vorort von Atlanta und Erfinderin des viralen Tanzes "Renegade", zeigte sich in der New York Times enttäuscht darüber, dass niemand der teils prominenten Nachtanzer sie für die Kreation würdigte. Den dazugehörigen Song "Lottery" von Rapper K-Camp beförderte sie dafür in die US-Charts.
Inzwischen geht man von mehr als 800 Millionen aktiver Tiktok-User aus, mehr als etwa bei Twitter. Während der Corona-bedingten Ausgangsbeschränkungen, als viele ein bisschen mehr Zeit am Handy verbrachten, bekamen die Zahlen noch einen Schub. Anfang Mai war Tiktok weltweit zwei Milliarden Mal heruntergeladen worden, allein in dem Monat 112 Millionen Mal - laut Analysefirma Sensor Tower erneut mehr als jede andere App.
Nirgendwo kann man gerade schneller zum Star werden. Die weltweit erfolgreichste Tiktok-Nutzerin Charli D'Amelio etwa macht klassische Tanz-Tiktoks, natürlich tanzte sie auch den "Renegade", und hat eine gigantische Reichweite von 67 Millionen Followern. Zum Vergleich: Der größte Youtuber Pewdiepie erreichte als erster dort ähnliche Abonnenten-Zahlen im Jahr 2018, da gab es Youtube schon 13 Jahre lang, fast ebenso lang gab es seine Videos. Charli D'Amelio dagegen ist seit einem Jahr auf Tiktok. Jede Woche generiert die 16-Jährige derzeit eine bis zwei Millionen Follower mehr.
Oder wie Veronika Karnowski vom Institut für Kommunikationswissenschaft der LMU München es beschreibt: "Tiktok war von den Nutzerzahlen bei den Jugendlichen im letzten Jahr ungefähr mit Facebook gleich, aber ist halt an einem ganz anderem Punkt. Die eine Plattform kommt, die andere geht." Daran, dass bei Tiktok bald mehr Werbung Einzug halten wird, besteht für sie kein Zweifel: "Die Firmen sind ja nicht so hoch gewertet, weil es alle nett finden und keiner Geld dafür ausgibt."
Noch ein Grund, weswegen die Plattform für werbende Unternehmen interessant ist: Man verbringt schnell lange Zeit dort, weil Tiktok aus Video an Video an Video besteht und eines direkt an das nächste anschließt. Das hat auch der Tourismusverband Schweiz Tourismus erkannt und kürzlich vier Tiktoker engagiert. Man wolle so "die Gäste von übermorgen erreichen und früh an das Reiseland Schweiz binden."
Der schnelle Anstieg der Nutzerzahlen sei nicht zu überschätzen, sagt Kommunikationswissenschaftlerin Karnowski, der sei auch darin begründet, dass Tiktok auf vielen Märkten gleichzeitig unterwegs ist. Wirklich besonders sei: "Tiktok sind die ersten, die es geschafft haben, ein Produkt für den chinesischen Markt und den westlichen Markt parallel zu platzieren."
Schätzungsweise kommt die knappe Hälfte der Nutzer von Tiktok aus China und nutzt die chinesische Version Douyin. Tiktok gehört wie Douyin zum chinesischen Konzern ByteDance. Experten kritisieren massive Datenschutzprobleme und auch der Verdacht chinesischer Zensur steht im Raum. Dass der bislang hochrangige Disney-Manager Kevin Mayer seit Juni nun Chef von Tiktok ist und gleichzeitig beim Mutterkonzern ByteDance das operative Geschäft leitet - vielleicht auch ein Versuch, das Image des Unternehmens aufzubessern und sich dem westlichen Markt weiter anzunähern.
Tiktok in seiner jetzigen Form gibt es erst knappe zwei Jahre, doch die Funktionen der App sind nicht neu. Musical.ly und Dubsmash gelten als Tiktok-Vorgänger, auch dort bewegten vorwiegend Jugendliche die Lippen zu Soundschnippseln oder tanzten. ByteDance kaufte musical.ly auf und fusionierte es mit Tiktok. Auf Tiktok hat sich außerdem Comedy etabliert, wie es sie früher auf Vine gab, einer seit 2017 eingestellten Video-App, in der in wenigen Sekunden und vielen Schnitten Lustiges entstand.
Auf Tiktok machen das unter Abertausenden sehr erfolgreich zum Beispiel Comedian Sarah Cooper, die den amerikanischen Präsidenten nachahmt, oder auch der britische CNN-Journalist Max Foster, der auf seinem Kanal komödiantisch nachspricht und zwischendurch die Premierministerin von Island interviewt. Auch journalistisch gewinnt Tiktok an Relevanz. Die Tagesschau macht dort Beiträge und mischt Clips von Linda Zervakis in der Maske, oder Jan Hofer mit lustiger Krawatte dazu. Junge Menschen haben sich laut Reuters Digital News Report über Tiktok auch zum Coronavirus informiert.
In Deutschland gehören zu den prominenten Tiktok-Gesichtern etwa Lena Meyer-Landrut, Moderatorin Sylvie Meis, Model Lena Gercke. Aber die großen Tiktoker sind jünger und sie wurden auf der Plattform bekannt - nicht anderswo. Der derzeit erfolgreichste aus Deutschland heißt Falco Punch, 8,8 Millionen Follower. Der 24-Jährige hat sich auf Transition-Videos spezialisiert, spielt also mit raffinierten Übergängen, und hatte letztens Dieter Bohlen zu Gast auf seinem Kanal, dieses Jahr schloss er einen Musikvertrag mit der Plattenfirma Universal Music ab und soll bald auch in den Charts Hits liefern.
Währenddessen schaut die Social-Media-Konkurrenz aus Silicon Valley wohl argwöhnisch auf Tiktok. Facebook baut für Instagram eine Funktion namens Reels aus. Mit ihr lassen sich neuerdings bis zu 15-sekündige Videos erstellen, die nicht ohne Zufall stark an die chinesische Konkurrenz erinnern. Veronika Karnowski möchte keine Prognose darüber wagen, wer sich hier durchsetzen könnte. "Die spannende Frage ist: Kommt auch die nächste Generation noch zu Tiktok, oder sind die schon wieder beim nächsten Ding?"