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Netflix-Serie "Tiger King":Warum "Tiger King" überall auf der Welt zum Kult geworden ist

Die Doku-Serie über die Besitzer von Raubkatzen ist ein Sittengemälde zwischen verirrter Männlichkeit und einem fehlgeleiteten amerikanischen Freiheitsbegriff.

Von Quentin Lichtblau

Die Doku-Serie Tiger King ist in der Lockdown-Welt in wenigen Tagen zum globalen Phänomen geworden. Hier wie im Rest der Welt überschlagen sich die Lobpreisungen, Memes und Danksagungen, mit denen die siebenteilige Serie gefeiert wird. Das mag daran liegen, dass sich die Welt ihrer Protagonisten gefühlt so dermaßen weit weg von allem befindet, was man normal nennen kann.

Das Reich der privaten Zoobetreiber der USA ist gewissermaßen ein Paralleluniversum zwischen Florida und Oklahoma, eines mit sehr eigenen Regeln, das aber eben doch wahrhaftige Realität ist. Die beginnt mit dem unglaublichen Fakt, dass in den USA mehr Tiger in Gefangenschaft leben, als im Rest der Welt in freier Wildbahn. Jede einzelne Figur in diesem von den Filmemachern Rebecca Chaiklin und Eric Goode in fünf Jahren Arbeit aufgearbeiteten Universum wäre ein eigenes, mehrstündiges Biopic wert: Ein Kubaner namens Mario Tabraue, angeblich die Inspiration für die Figur des Tony Montana in Scarface, der sich seine Liebe zu Raubkatzen über Drogengeschäfte finanziert hat, ein sektenartiger Guru namens "Bhagavan" Antle, der mit zig exotischen Tieren und ungefähr neun Frauen in riesiges Grundstück bewohnt, die er im grenzwertig jungen Alter über ihrer Liebe zu den Katzen in seine Arme lockte. Oder Jeff Lowe, ein alter Mann im 90er-Rapper-Kostüm, der in einer Stretchlimo voller Tigerbabys durch Las Vegas fährt und Fotos mit ihnen gegen Sex eintauscht.

Über alldem schwebt der große Konflikt zwischen den zwei Hauptfiguren: Auf der einen Seite Joseph Allen Maldonado-Passage, geborener Schreibvogel, besser bekannt als Joe Exotic oder Tiger King, ein Hillbilly mit einem fast schon inszeniert wirkenden Trash-Glam-Auftreten, der - wie er erzählt - von seinen Eltern aufgrund seiner Homosexualität verstoßen wurde und zwischen Tigern, Löwen und Ligern (Kreuzung ersteren) und seinen zwei Ehemännern eine neue Familie, wenn nicht ein eigenes Königreich gefunden hat. Dieses Reich ist aus seiner Sicht bedroht - und zwar von seiner Nemesis, der Tierrechtlerin Carol Baskin, grundsätzlich in Animal-Print anzutreffen, die eine Wildkatzen-Auffangstation betreibt, laut Exotic aber nur auf Geld aus ist und außerdem ihren Ex-Mann den Tigern zum Fraß vorgeworfen hat. Baskin wirft Exotic wiederum vor, seine Tiere nicht artgemäß zu halten, unnötig viele Katzen nachzuzüchten und den überschüssigen Nachwuchs (für Foto-Sessions mit Tigerbabys braucht es schließlich ständig neue Babys) im nicht mehr finanziell verwertbaren Alter zu töten.

Eine Mischung aus True Crime, kritischer Dokumentation, Drama und Sittengemälde

Aufgrund der Unmengen an Material - neben den eigenen Drehs hatten die beiden Filmemacher auch Zugriff auf Szenen einer eigens für Exotic angedachten Reality-Show, alte Familienvideos und die Clips aus Exotics und Baskins Youtube-Kanälen - entsteht so ein dramaturgisch absolut großartig verwobene Mischung aus True Crime, kritischer Dokumentation, Drama und Sittengemälde zwischen verirrter, egomanischer Männlichkeit und einem fehlgeleiteten amerikanischen Freiheitsbegriff - womit sich natürlich trotz all der thematischen Abseitigkeit immer auch der große politische Rahmen der heutigen USA durch die Bilder zieht.

Tierrechtler kritisierten, dass bei all den menschlichen Abgründen das eigentlich mehr als offensichtliche Leid der Tiere verschwinde - und tatsächlich, die Kleinteiligkeit, mit der jede einzelne Biografie ausgeleuchtet wird, hätte man zumindest in einer Folge auch einmal auf die Erläuterung der Gesetzeslage oder den tatsächlich wünschenswerten Haltungsmethoden von Wildkatzen - sofern es diese gibt - anwenden können. Das wiederum hätte allerdings möglicherweise das Gesamtkonzept der Sendung in Gefahr gebracht: Die Darstellung von Baskin und Exotic als Spiegel ihrer selbst.

In dieser überinszenierten Welt, vielleicht passt hier der Begriff eines magischen Realismus, erscheint es dann endgültig verwirrend, wenn die Akteure in die derzeitige Corona-Realität eintreten: Tiger King Joe Exotic befindet sich laut seinem dritten Mann dieser Tage zur Corona-Isolation im Gefängnis-Krankenhaus. Und wie man aus dem Corona-Epizentrum New York hört, hat sich im dortigen Zoo offenbar erstmals auf amerikanischem Boden ein Tier mit Covid-19 infiziert. Ein Tiger.

Tiger King, bei Netflix*

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Quelle:
SZ vom 09.04.2020/khil
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