Süddeutsche Zeitung

"Tiger King 2" bei Netflix:Glaubt doch, was ihr wollt

Ist Joe Exotic unschuldig? Hat Carole Baskin ihren Mann ermordet - oder doch die Mafia? Bei "Tiger King 2" werden zusehends irre Theorien geraunt. Und problematisch wenig eingeordnet.

Von Jakob Biazza

Ist ein eher simpler Charaktertest, klar, aber er liefert doch sehr eindeutige Ergebnisse: Wie benimmt man sich nach einem Sieg? Gerade gegenüber dem Besiegten. Man kann als Gewinner sehr leise vom Schlachtfeld abtreten. Oder man tritt nach. No time for looooosers. So geh'n die Gauchos. Dieser Kram. Im Greater Wynnewood Zoo in Oklahoma haben sie einen großen Müllcontainer aus Metall stehen, darauf ein weißer Aufkleber mit roter Schrift: "Home of Joe Exotic." Verlierer landen hier also auf dem Müll.

Joseph Allen Maldonado-Passage, wie Exotic bürgerlich heißt, gehörte der Zoo früher schließlich mal. Jetzt sitzt er im Gefängnis: 22 Jahre. Er soll den (nicht ausgeführten) Mord an der Tierschützerin Carole Baskin in Auftrag gegeben haben. Dazu kamen diverse "Verstöße gegen Tierschutzgesetze", was natürlich einer dieser scheußlichen Euphemismen ist. Maldonado-Passage, auch "Tiger King" genannt, hat unter anderem gesunde, geschützte Tiere getötet - nachdem er sie vorher immer wieder unter Lebensbedingungen gehalten hatte, die den Tod womöglich als gütigere Alternative erscheinen ließen.

Alles in der ersten Staffel passiert. Weil man die zweite aber ohne sie nur bedingt verstehen wird, und weil es ja Menschen geben soll, die die erste Corona-Welle mit Lesen verbracht haben, eine kurze Zusammenfassung des Wahnsinns bis hierhin: Es war der Vorabend des ersten Lockdowns, März 2020, als Tiger King zur Sensation wurde. Im Zentrum, als große Antagonisten, der Zoobetreiber Joe Exotic und die Tierschützerin Carole Baskin. Exotic ist ein Typ, der im Gesamthabitus wirkt, als hätten Chuck Norris, Clint Eastwood und Ziggy Stardust ein schwules Kind gezeugt, das im Meth-Wahn mit Bravour das Clown-College absolviert und anschließend Hunderte Raubtiere in einen Vergnügungspark gepfercht hat, um mit ihnen spielen zu können. Er ist mit mehreren unterschiedlich drogensüchtigen Männern verheiratet. Einer von ihnen schießt sich versehentlich in den Kopf - und zwar vor den Augen des Kampagnenmanagers, den Exotic angeheuert hatte, um Präsident zu werden. Oder, weil das nicht geklappt hat, wenigstens Gouverneur.

Carole Baskin ist eine Tierschützerin, die in Fragen der Kleidung und Innenausstattung ebenfalls eine gewisse Manie beim Thema Katzen durchblicken lässt. Eine in der Serie verfolgte Theorie legt nahe, dass sie ihren ersten Ehemann umgebracht und an ihre eigenen Raubkatzen verfüttert haben könnte. Eine weitere Theorie meint entsprechend, dass ihr aktueller Mann Howard eine recht eindrückliche Version des Stockholm-Syndroms vorführe.

Es war, man muss das einräumen, schon auch ein sehr irrer Spaß. Einerseits.

Bei aller Meta-Ironie war Tiger King aber andererseits auch eine Show des Sich-über-Menschen-Erhebens. Europäer beömmelten sich über die ja so was von strunzblöden Amerikaner. Großstadtdemokraten über waffennärrische Rednecks und die ans Amouröse heranreichend besorgten Tierschützer. Alle gemeinsam begafften die ja tatsächlich hanebüchene Selbstinszenierung quasi ausnahmslos aller Beteiligten.

Einer verliert einen Arm, ein paar den Verstand. Was allen blieb, war der Hohn

Was die letzte, sehr ergreifende Ebene dieser Serie war: Sie zeigte doch eigentlich und vor allem Menschen, die auf völlig unterschiedlich gleiche Art geliebt werden wollten. Und dabei meistens viel bis alles verloren: Exotic die Wahlen, seinen Zoo, die Freiheit. Einer verliert einen Arm. Ein paar den Verstand. Was allen blieb, war der Hohn - von den Zuschauern, aber schon auch den Filmemachern.

Und damit herzlich willkommen bei Netflix im Jahr 2021 - am Vorabend des dritten Lockdowns in Deutschland.

Und bei den wenigen Gewinnern und damit der Frage: Wie benehmen die sich jetzt also? Nun, Jeff Lowe, dem der Zoo inklusive Müllcontainer und Aufkleber zu Beginn der zweiten Staffel gehört, hat sich zur Feier zum Beispiel eine bling-bling-strotzende Proll-Kette anfertigen lassen. "Tiger King", sagt der Anhänger. Klar: Wer würde sich mit einem Tierpark zufriedengeben, wenn man dem Gegner auch den Spitznamen, der hier wohl tatsächlich Identität ist, nehmen kann?

Selbst Howard Baskin, in "Webster's Dictionary" garantiert als Bebilderung des Wortes "kreuzbrav" zu finden, zappelt im Auto quietschfidel zum Song "Lonesome Looser" von der Little River Band herum, während er Richtung Zoo fährt, um das "GW"-Logo mit einer kreischenden Handsäge zu zerflexen. Die Baskins haben das Areal nach einem längeren Rechtsstreit - erst gegen Exotic, dann gegen Lowe - zugesprochen bekommen. "Have you heard about the lonesome loser / beaten by the queen of hearts every time / Have you heard about the lonesome loser / He's a loser but he still keeps on trying ..." Ist schon eine besonders elende Welt, in der sogar die Könige der Herzen die einsamen Verlierer verhöhnen.

Was nun noch mal zu Netflix führt.

Netflix respektive die Regisseure Eric Goode und Rebecca Chaiklin machen das natürlich auch bei der zweiten Staffel sehr klug. Der Unfalleffekt, der Teil eins so unwiderstehlich gemacht hat, dass man nicht wegsehen konnte, hat sich inzwischen schließlich abgenutzt. Gafferstau aufgelöst. Fahren Sie weiter, es gibt hier nichts mehr zu sehen. Deshalb dimmen sie die Freak-Show jetzt etwas herunter - und den Doku-Anteil hoch. Tiefen-Recherche mit gigantischem Budget. True-Crime-Ermittlungen über mehrere Länder hinweg. Im Zentrum diesmal zwei Fragen: Wurde Joe Exotic der vermeintliche Mordauftrag nur angehängt, sitzt er also, was das betrifft, unschuldig im Gefängnis? Und wer hat Carole Baskins Ex-Mann Don Lewis umgebracht? Falls er denn tot ist. Er könnte nämlich genauso gut in Costa Rica untergetaucht sein - zum Beispiel, um der Midlife-Crisis-Verödung im amerikanischen Tierstreichler-Spießertum zu entfliehen.

Er könnte sich in Costa Rica aber auch mit dem organisierten Verbrechen eingelassen haben. Ein Kontaktmann, den man in San José aufgetrieben hat, raunt von Kisten voll mit zusammengerollten 100-Dollar-Scheinen. Lewis könnte außerdem pädophilen Neigungen nachgegeben haben - mit einer 15-Jährigen. Er könnte sogar ein Bordell mit Minderjährigen, mit Kindern, betrieben haben. Auch das raunt der Kontaktmann. Lewis könnte also vielen Menschen viele Gründe geliefert haben, Mordwünsche zu hegen. Auch der verlassenen Ehefrau, die im Testament begünstigt ist. Raunt Netflix. Genauer: Lässt Netflix raunen.

Denn hier wird es nun problematisch. Baskin hat den Streaming-Dienst gut zwei Wochen vor dem Start der zweiten Staffel verklagt. Begründung: Die von ihr und ihrem Ehemann unterzeichneten Freigabeformulare hätten sich nur auf die ursprüngliche Dokumentation bezogen. "Es wird mit keinem Wort erwähnt, dass Royal Goode Production die Rechte für Fortsetzungen, die Rechte für die Erstellung abgeleiteter Werke des Films oder zusätzlicher Staffeln oder Episoden gewährt werden", heißt es in der Klage.

Das klingt sehr technisch und nach einer weiteren Eitelkeit in diesem Universum der Verhaltensauffälligen. Tatsächlich heißt es aber, dass Netflix bei Staffel zwei, was Baskin betrifft, ausschließlich mit dem mitunter mehrere Jahre alten Material aus Staffel eins hantiert. Das ist für eine Doku, die ihr einen Mord zutraut, erstaunlich dünn.

Und es bringt ein Dramaturgieproblem. Wie bei Netflix in diesen Formaten üblich, gibt es keinen übergeordneten Erzähler. Die Handlung wird durch das vorangetrieben, was die Protagonisten berichten. Baskin berichtet nichts Neues mehr - deshalb müssen das andere für sie übernehmen. Tiger King 2 wird dadurch über weite Strecken zu einer Aneinanderreihung von anwachsend wahnsinnigem Geraune übereinander. Die finale Einordnung bleibt weitestgehend dem Zuschauer überlassen. Glaubt doch, was ihr wollt.

Allen Glover, der angebliche Auftragskiller: "Joe wurde von Anfang bis Ende verarscht."

Ripper Jack, ein selbsternannter Internetermittler ohne jede Ausbildung, dem sehr viel Platz gegeben wird, sagt also über Carole Baskin: "Falls Carole unschuldig sein sollte, in Ordnung. Aber sie weiß etwas."

Eine Haushälterin von Don und Carole Lewis: "Ich vermute, dass Caroles Vater und Kenny Farr etwas mit dem Mord an Don zu tun haben. Ich habe keine Beweise."

Don Lewis' älteste Tochter über Baskin: "Ich glaube, sie lügt."

Der Unternehmer James Garretson über den angeblichen Mordauftrag von Joe Exotic: "Ich glaube, es war eine Intrige von Jeff Lowe und Glover."

Allen Glover, der angebliche Auftragskiller: "Joe wurde von Anfang bis Ende verarscht."

Jeff Lowe über seine Ehefrau Lauren: "Wenn ich Lauren auf den Strich schicken muss, damit wir durchkommen, müssen wir das eben tun."

Gegen Ende tritt eine Frau auf, die klingt wie die russischen Geheimagentinnen, die etwa nach der Hälfte des Films in den Armen von James Bond sterben. Sie sagt: "Jeff Lowe is opportunist and goes after people who are in trouble. He promises them probably heaven on earth, and then he fucks them over without lubrication from behind with a wire brush." Kurzversion: Jeff Lowe ist kein sonderlich netter Kerl. Man versteht nicht ganz, wo sie ihre Expertise hernimmt. Bis zu dieser denkwürdigen Erklärung: "That's my opinion, of course, but I am rarely wrong. I am Eastern European bitch, so I can not be wrong." Netflix-Expertise, 2021.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5467251
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/freu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.