Der amerikanische Regisseur und Drehbuchautor Mike White ist mit seinem scharfen Blick der Meister der "Cringe Comedy". Das ist jene Form der Komödie des Fremdschämens, die davon lebt, dass man kaum hinschauen mag, wie peinlich die Figuren sich benehmen und damit ihr eigenes Missgeschick schaffen. Deswegen gibt es kaum eine vergnüglichere Form der Kapitalismuskritik als seine HBO-Serie The White Lotus. Wobei er weniger in der Tradition von Karl, aber sehr deutlich in der von Groucho Marx steht. Der wusste schon in den Dreißigerjahren, dass man die Verderbtheit der sogenannten One Percenters nirgendwo besser beobachten als in ihrem Paradies.
Whites Serie ist nach einer fiktiven Hotelanlage im Inselbundesstaat Hawaii benannt, die viele Sterne und noch mehr Swimmingpools hat. VIP-Gäste, die Suiten gebucht haben, werden mit einem Boot gebracht, das aussieht wie die Luxusyacht aus der Zeit, als Milliardäre noch Panamahüte und weiße Anzüge trugen. Da treffen dann ein: die Flitterwöchner Shane und Rachel Patton, Familie Mossbacher mit ihren beiden Kindern nebst College-Freundin der Tochter sowie Tanya McQuoid. Drei Parteien, die die drei dominanten Inkarnationen des Kapitals im heutigen Amerika repräsentieren. Shane arbeitet für das Immobilien-Imperium seiner Eltern. Mutter Mossbacher leitet einen Suchmaschinenkonzern. Tanya McQuoid verfügt über unerklärlich viel Familienvermögen.
Am Ufer warten schon Hotelmanager Armond und die Angestellten, denen er ihre Rolle in der Hackordnung der gehobenen Serviceindustrie mit aller Deutlichkeit beschreibt. "Winkt, als ob ihr's ernst meint", weist er sie an. "Aber seid nicht zu spezifisch in eurer Präsenz. Wir müssen hinter unseren Masken als angenehme, austauschbare Helfer verschwinden. Das ist tropisches Kabuki."
Mit solchen Sätzen schreibt und inszeniert Mike White seine Boshaftigkeit und Sozialkritik virtuos hinter einem Firnis der Tropenmustertapeten, Edelhölzer und Fünfsterne-Höflichkeiten. Ein wenig später in der ersten Folge formuliert er schon das Psychogramm der Oberschicht unserer Zeit mit ebenso wenigen Dialogzeilen. Da bahnt sich sehr freundlich der erste Konflikt an. Die Flitterwöchner Rachel und Shane wurden in die falsche Suite gebucht, was dem Bräutigam gleich mal die Libido und nachhaltig die Laune versaut. Armand wimmelt ihn ab und erklärt dann einer Auszubildenden, wie diese VIP-Gäste funktionieren: "Sie müssen diese Menschen wie sensible Kinder behandeln. Sie sagen vielleicht, dass es ihnen ums Geld geht, aber das stimmt nicht. Es geht nicht einmal um das Zimmer. Sie wollen nur das Gefühl haben, dass sie gesehen werden. Sie wollen das Einzelkind sein. Das auserwählte Nesthäkchen des Hotels." Nein, die Reichen in den Suiten des White Lotus sind keine bösen Menschen. Sie sind einfach so und können nicht anders.
Mike Whites Figuren treffen in fast jeder Lebenslage die falsche Entscheidung
Sie wollen sogar alles richtig machen. Shane bemüht sich, den verständnisvollen Ehemann zu geben, auch wenn er seine intellektuelle Ehefrau zur Trophäe degradiert. Die Mossbachers wollen ihren Teenager-Kindern gute Eltern sein, lassen sich sogar auf die politisch korrekten Diskussionen mit Tochter Olivia und ihrer Schulfreundin Paula ein, auch wenn sie in letzter Instanz ihre hart erarbeiteten Privilegien verteidigen. Paula will als Person of Color den unterdrückten hawaiianischen Ureinwohnern beistehen, denen ihr Land für den Hotelbau geraubt wurde, und bleibt doch das reiche Töchterchen. Und Tanya McQuoid möchte die Trauer über den Tod ihrer Mutter überwinden und sucht nach der ehrlichen Liebe. Viel emotionales Gepäck ist da mit auf der Insel. Im Fall von Tanya McQuoid ganz buchstäblich. Sie hat die Asche ihrer Mutter in einer Schatulle dabei, um sie ins Meer zu streuen. Was der grandiosen Komikerin Jennifer Coolidge eine Steilvorlage für bravouröse Nervenzusammenbrüche gibt, die einem die Schauer der Fremdscham kalt den Rücken herunterjagen.
Mike Whites hohe Kunst der Cringe Comedy ist es, dass seine Figuren in fast jeder Lebenslage die falsche Entscheidung treffen und so den eigentlich doch perfekten Urlaub und ein wenig das perfekte Leben entgleisen lassen. Diese konsequente Selbstdemontage mag das Grundmuster im Genre der Fremdschäm-Komödien sein, das sich Anfang der Nullerjahre mit Ricky Gervais' The Office und gleich zwölf weltweiten Fassungen wie dem deutschen Stromberg etablierte und einen letzten Höhepunkt mit Phoebe Waller-Bridges Fleabag hatte. Die Qualität dieser Serien ist in der Regel ein Drehbuch, das von einer brillant boshaften Menschenkenntnis geprägt ist, sowie eine fast beiläufige, halbdokumentarische Inszenierung. Mike White hebt das allerdings noch einmal mit einem Mut zur Schweigepause auf eine neue Ebene.
Sein Gespür für Timing, also die punktgenaue Platzierung der Anti-Pointen seines Genres, scheint sich in seiner Person zu manifestieren. In Hollywood etablierte White sich zunächst als Drehbuchschreiber von Jack Black, für den er "School of Rock" und "Nacho Libre" schrieb. Seine erste Cringe Comedy war die HBO-Serie Enlightened, für die Laura Dern den Golden Globe für ihre grandiose Rolle als Amy Jellicoe bekam, eine psychisch labile Angestellte, die nach dem Besuch eines holistischen Heilzentrums auf Hawaii den Konzern reformieren will, für den sie arbeitet. Mike White hatte da selbst eine Rolle - meist spielt er ja einen klassischen Verlierer. In seiner linkischen Körpersprache kann man da sein Zeitgefühl beobachten. Auch als Regisseur versteht er sich darauf, immer ein wenig zu lange zu brauchen, Szenen genau die Sekunden zu lange stehen zu lassen, die sie so schwer erträglich machen und damit den Cringe-Effekt ins Übertourige steuern.
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.
The White Lotus ist ein Kammerspiel, das sich ausschließlich auf dem Hotelgelände und am Strand abspielt. Die Serie ist auch zuallererst eine Charakterstudie. Was nicht heißt, dass die Beschleunigungsmechanismen des neuen Fernsehens zu kurz kämen. Durch das Sperrfeuer der Fehlentscheidungen gibt es sogar eine grandios rasante Verkettung der "Plot Twists". Weil die reichen One Percenters aber auch im wahren Leben weitgehend von den Folgen ihres Handelns isoliert sind, reisen sie am Ende alle wieder ab. Ob und wer doch Schaden genommen oder sich verändert hat, sei hier verschwiegen, auch wenn selbst ein Spoiler dem Cringe-Faktor von The White Lotus die Schärfe nicht nehmen könnte.
The White Lotus, 6 Folgen bei Sky Ticket, Magenta TV, Amazon Video, Google Play und Itunes.